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: An der Stelle, als die Flugbegleiterin weint, kippt der ganze Film

„Zero Fucks Given“ (Belgien 2021, Regie: Julie Lecoustre/Emmanuel Marre). Die DVD ist ab 13 Euro im Handel erhältlich.

Wie lange, wird Cassandre gefragt, machst du den Job denn jetzt schon? Sie überlegt, zögert, kann es nicht genau sagen. Da hat sie die zündende Idee und schaut auf ihrem Instagram-Kanal nach, da ist ihr Leben dokumentiert. Voilà: Zweieinhalb Jahre. Der Job? Sie ist Flugbegleiterin bei einer Billig-Airline, im Film heißt sie „Wing“, die Mittel sind knapp, die Ansprüche an die Mitarbeiterinnen unverschämt, Zahlen sind alles, Menschen egal. Der Job? Kein Pardon kennen und dabei Ärger vermeiden, unter Zeitdruck den Müll einsammeln und beim Shopping-Angebot während des Flugs möglichst viel Ware verkaufen.

Es sind die immer selben Touren, die Cassandre fliegt, im Hintergrund gern Lanzarote. Blick auf die Welt durch beschlagene Scheiben, unterwegs auf dem Flughafen-Laufband, dazu läuft so eine Art Vangelis-Musik. Cassandre geht tanzen in Clubs, findet dort oder auf Tinder Männer zum Sex, betrinkt sich, muss weiter, läuft alles in allem wie betäubt durch die Welt. Da ist eine Kollegin, die von einem Aufstieg zu einer Edel-Fluglinie wie „Emirates“ träumt, aber da musst du vier Sprache sprechen, Cassandre spricht neben ihrer Muttersprache Französisch nur Englisch, und das auch nicht wirklich perfekt.

Die Frau mit dem ominösen Vornamen wird von Adèle Exarchopoulos gespielt, seit „Blau ist eine warme Farbe“ ein Star. Sie trägt diesen Film, ist in jeder Szene zu sehen, gibt der Figur eine Mischung aus Müdigkeit und einem ungefälligen Trotz, der nicht Widerstand ist, nicht mehr als bestenfalls ein passiv bleibendes Nicht-einverstanden-Sein mit der Lage der Dinge. „Rien à foutre“ heißt der belgische Film im Original, „Zero Fucks Given“ die englische Übersetzung, „Scheißegal“ wäre der richtige deutsche Titel. Irgendwer hat jedoch auf die deutsche DVD die erbauliche Unterzeile „Lebe den Tag, lebe das Leben“ geschmuggelt: Gipfelpunkt einschlägiger Absurditäten.

In der ersten Hälfte folgt der Film von Julie Lecoustre und Emmanuel Marre seiner passiven Heldin auf ihren dystopischen Wegen zu Lande und in der Luft. Kühl, registrierend, fast könnte es scheinen, sie wäre das Subjekt ohne störendes Innenleben, das sich die Fluglinie fürs Verfrachten des Menschenmaterials wünscht. Als sie vor die Alternative Entlassung oder Fortbildung ­gestellt wird, macht sie lustlos die Fortbildung mit. Nur das 30-Sekunden-Dauerlächeln fällt ihr, wie den Kolleginnen und Kollegen, nicht leicht.

Dann aber, wie nebenbei, ein Anruf der Telefongesellschaft, die ihr einen besseren Handy-Vertrag aufschwatzen will. Cassandre hat nichts dagegen, nur stellt sich heraus, dass ihre Mutter den aktuellen Vertrag unterschrieben hatte und darum auch ändern müsste. Das wird kompliziert, sagt Cassandre, meine Mutter ist tot. Sie weint. Das ist die Stelle, an der der Film sehr bewusst kippt. Von hier an ist Cassandre nicht mehr nur das kühl beobachtete Objekt, das von Unort zu Unort mehr bewegt wird, als dass es sich aus eigenem Willen bewegt.

Die Handkamera bringt Dynamik und Unruhe in die Bilder

Sie besucht Vater und Schwester in der belgischen Heimat. Die Handkamera bringt Dynamik, Unruhe in die Bilder. Es geht um die Mutter, die bei einem Autounfall verstarb, um den nun ein Prozess geführt werden soll. Der Vater erinnert sich, man sieht nur seinen Rücken, es ist Nacht, es ist kalt, ein Zittern, das per Bewegungsmelder aktivierte Außenlicht geht aus, an und aus. Später ein Gespräch im Dunkeln, nur das Glühen der Zigarettenspitzen spendet Licht. Diese zweite Hälfte des Films ist weniger das Gegen- als das Hintergrundbild zum entfremdeten Job. Eine Humanisierung, die sich, wie das Schlussbild zeigt, aber keine Illusionen macht über das, was daraus folgt. Ekkehard Knörer