Erste deutsche Nachkriegszeitung: Eingeschmolzen

Die „Aachener Nachrichten“ erschienen seit Januar 1945. Jetzt wird die Zeitung abgewickelt. So richtig traurig scheint niemand zu sein.

Schwarz-weiß-Foto, Nachkriegszeit, Verkauf der Aachener Zeitung

Die erste lizensierte Zeitung nach dem Krieg: die „Aachener Nachrichten“ Foto: dpa

Aachen war die erste deutsche Großstadt, in der die Nazis im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten besiegt wurden. Am 21. Oktober 1944, also über ein halbes Jahr vor Kriegsende, hatte die Wehrmachtkommandantur nach wochenlangen Straßenkämpfen eine Babywindel aus ihrem Schutzbunker gehisst: Kapitulation.

Erste Schlagzeile der „Aachener Nachrichten“ vom 24. Januar 1945

„Russischer Siegeszug rollt weiter“

Schon drei Monate später, am 24. Januar 1945, erschien die erste Nachkriegszeitung Deutschlands: die ­Aachener Nachrichten, unter der Lizenz Nr. 1 der Alliierten. „Russischer Siegeszug rollt weiter“, lautete die Titelzeile, darunter: „Ostpreußen überrannt“.

Erste freie Presse! Darauf war Aachen 77 Jahre lang sehr stolz, der Zeitungsverlag vorneweg. Zu Jubiläen erschienen üppige Sonderausgaben, voller historischer Abhandlungen, Erinnerungen, Kuriosa. Als einzige deutsche Zeitung hatten die AN am 8. Mai 1945 in großen Lettern verkünden können: „Der Krieg ist aus!“ Ein Originalexemplar hängt heute im Bonner Haus der Geschichte.

Zum Jahresende werden die Aachener Nachrichten eingestellt und gehen in der Aachener Zeitung auf. Ein pressegeschichtlicher Cut. Entsorgt wird „ein wichtiger Vertreter deutscher Demokratiegeschichte der Nachkriegszeit“, so Dr. Astrid Blome zur taz, Leiterin des Instituts für Zeitungsforschung in Dortmund. Erstaunlich: Niemand nimmt groß Notiz vom historischen Ende. Was ist da los?

Einsetzende Zeitungskrise

Nach der AN, die anfangs „SPD-nah“ genannt wurde, gründete sich 1946 ein Gegenstück: Die Aachener Volkszeitung, der Untertitel: „Christlich-Demokratisch-Unabhängig“. Die AV war ein tief schwarzes und bischofsnahes Blatt, das Andersdenkende statt AVZ bald AVHetz nannten. Seit 1975 erschienen beide Blätter im gleichen Verlagshaus, aber journalistisch in eifriger Konkurrenz. Man nannte das „Aachener Modell“. 1996 taufte sich die AVZ in AZ um: Aachener Zeitung.

Ab 2003, mit der einsetzenden Zeitungskrise, löste sich die inhaltliche Trennung allmählich auf: Erste identische Texte erschienen in beiden Blättern, ein gemeinsames Newsdesk wurde die Schaltzentrale. Ein Tod auf Raten hatte begonnen. 2018 fiel der getrennte Lokalteil. Seitdem unterscheiden sich die beiden Blätter bis auf Marginalien nur noch im Titel und in den Farben Gelb (AN) und Blau (AZ). Die Verkaufsauflage hat sich seit 1998 mehr als halbiert auf noch 68.000 Exemplare pro Tag, etwa im Verhältnis AN 40 zu AZ 60.

Jetzt das AN-Aus. Da waren Fragen an die Verlagsgruppe Medienhaus ­Aachen GmbH nötig. Statt Antworten gab es umgehend eine Einladung zum Gespräch.

Wie viel Ersparnis ist das Ende wert? Verlags-Geschäftsführer Andreas Müller erklärt, wie komplex und mühselig Umstellungen und Farbwechsel seien für das gleiche Produkt: Man müsse „Maschinen komplett neu einrichten“, Aluminiumplatten tauschen, 200 erste Andrucke seien für die Tonne, dazu Arbeitsstunden, Zeitverzug. „Das alles kostet Geld, das wir nicht haben.“ Wie viel genau, sagt er nicht.

Warum ausgerechnet die historisch gewichtige AN opfern? „Das ist das kleinere Risiko“, sagt Müller, „der Name Nachrichten für die ganze Region wäre Harakiri gewesen“ – gemeint ist etwa das besonders konservative Heinsberg. Da gelten die Nachrichten als gottlos, igitt. Andere Lösungen, etwa ein Doppeltitel? „Davon haben alle Marketingfachleute abgeraten.“

Synergieeffekte

Angeblich waren auch die AbonnentInnen Triebfedern: Die Trennung in zwei Zeitungen sei „von vielen unserer Leserinnen und Leser immer stärker infrage gestellt“ worden, hieß es in einer Verlagsmitteilung. Und etwas ungelenk formuliert: „Uns ist das historische Erbe der AN als erster Tageszeitung des Nachkriegsdeutschlands bewusst.“ Müller ergänzt: Man habe bei der Entscheidungsfindung „das Thema „Historie“ gestreift.

Dann nennt er Begriffe wie Synergieeffekte, Einmarkenstrategie, Effizienz. Also wolle man „verschmelzen“. Dabei ist man, bis auf den Namen, schon lange verschmolzen, unter Federführung von AZ-Leuten. Der Verlag bestreitet, der seit Jahresbeginn neue Mehrheitsgesellschafter, Mediahuis aus Belgien, sei dabei schmelzführend gewesen: „Die Verschmelzung ist inhaltlich getrieben.“

Chefredakteur Thomas Thelen erzählt, als man das Ende der AN offiziell verkündet habe, war „die Hotline vollbesetzt“. Doch es habe kaum Rückmeldungen gegeben. Es sei fast schon „erschreckend, wie wenige Leser sich gemeldet haben. Von Sturm und Protest sind wir weit entfernt.“

Ein stolzes Alleinstellungsmerkmal wird ausgelöscht, und auch aus der Politik kommen keine Wortmeldungen, nicht mal pflichtschuldiges Bedauern. Haben Zeitungen, zumal diese besondere, alle Bedeutung verloren?

Schon die Zusammenlegung der Lokalredaktionen 2018 war „ein Desaster für die Meinungsvielfalt“, schimpfte damals der Deutsche Journalisten-Verband NRW; ein „kontraproduktiver Etikettenschwindel“, sagt DJV-Justiziar Christian Weihe heute zur taz. Als eigenständige Zeitung seien die Nachrichten „schon vor vielen Jahren gestorben“. Auch die Online-Version der AN wird übrigens abgeschaltet, obwohl sie keine Aluplatten und Fehldrucke kennt.

Offenbar kein Bewusstsein

Und die MitarbeiterInnen? Intern habe es ein paar Enttäuschte gegeben, sagt Chefredakteur Thelen, aber: „Null Komma null Prozent Widerspruch.“ Ein Ehemaliger ist Hubert vom Venn, heute DJV-Bezirksvorsitzender. Er schreibt der taz: „Zwei Zeitungen wohnen, ach, in meiner Brust. Eine blaue und eine gelbe. Bei letzterer war ich freier Mitarbeiter, bei der blauen Volontär und Redakteur. Mir hat faire Konkurrenz immer Spaß gemacht. Das Ende stimmt mich unheimlich traurig.“

Empört ist der langjährige AN-Redakteur Volker S., der seinen richtigen Namen hier nicht gelesen sehen will. Besonderheit erste Zeitung? „Da gibt es im Verlag offenbar kein Bewusstsein mehr.“ Die Verantwortlichen erlebe er als „völlig unsentimental“, sie vergössen „höchstens Krokodilstränen“.

Und der „Qualitätsjournalismus unserer Zeitungen“, vom dem Chefredakteur Thelen so gern spricht? Über so viel Selbstlob wundert man sich als Leser bisweilen, angesichts seitenweiser nachgedruckter Pressemitteilungen der Stadt inklusive aller unkorrigierten Fehler, vielen sprachlichen Unverdaulichkeiten, zunehmend seichtem Inhalt und auffälliger Unlust zur Recherche. AN-Redakteur Volker S.: „Welche Qualität? Dem Verlag geht es um Online-Content und Klickzahlen. Entsprechend sind die Themenschwerpunkte.“

Volker S. will zudem „sicher wissen“: „Im Büro der Oberbürgermeisterin ärgern sie sich wie Sau über den Monopolisten und die immer populistischeren Tendenzen in seinen Zeitungen. Aber sagen tun sie nichts.“ Jedenfalls nicht von selbst.

That's it?

Erst auf Anfrage der taz teilt das Pressereferat der Grünen-nahen Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen (parteilos) mit: Man habe „Verständnis für die wirtschaftliche Entscheidung des Verlages“, aber: „Die Aachener Nachrichten standen und stehen als erstes freies Blatt für unsere demokratische, offene Gesellschaft. Gerade deshalb hat ihr Ende eine bedauerliche Symbolik.“

Symbolik? That’s it? Verdi-Gewerkschaftssekretär Christof Büttner verweist auf das stückweise Ende ab 2003, das habe die „Demontage von Meinungsvielfalt“ begonnen, wie man sie vielerorts erlebe. „In Aachen unterwirft sich das historische Erbe der Marktlogik. Bringt keine Kohle, kann also weg.“

Ab Januar ist die Berliner Zeitung (Lizenz der Sowjets: Mai 1945) das am längsten erscheinende Nachkriegsblatt. Die Medienhaus Aachen GmbH wird bestimmt von Herzen gratulieren.

Hinweis des Autors: Ab Frühjahr 1945 arbeitete meine Mutter in der Anzeigenabteilung der Aachener Nachrichten. Dort verliebte sie sich in einen Kunden, der später mein Vater wurde. Ohne AN gäbe es mich und diesen Text also nicht.

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