Die Hamburger Ausstellung „Atem“: Flüchtige Lebenslieferantin

Die Ausstellung „Atmen“ in der Hamburger Kunsthalle fragt nach der Darstellbarkeit von Luft. Den Zugang zu ihr problematisiert sie als Politikum.

Eine Frau mit Gasmaske hält einen Stoffsack in die Luft, im HIntergrund eine Stadt im Smog.

Jagd nach Frischluft: Die Aktionskünstlerin Vibha Galhotra in Delhi (Breath by Breath, 2016/17) Foto: Vibha Galhotra, Courtesy Nature Morte, Delhi

Natürlich ist der Atem ein Thema für die Kunst. Einerseits ist er ewig währendes Symbol für Geist und Seele. Die antiken Göttern machten damit Pygmalions Skulptur Galathea lebendig, auch in der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte hat Gott dem Menschen den Odem des Lebens eingehaucht. Und Buddha nutzte den Atem, um durch Meditation Erleuchtung zu erlangen. Anderseits ist er Metapher für Vergänglichkeit, Leben und Tod – denn er kann erlöschen.

Aber er ist auch ein Problem für die KünstlerInnen: Wie etwas so Flüchtiges, Feinmaterielles darstellen? Wie löste, wie löst die bildende Kunst diese Herausforderung, danach fragt eine große, epochenübegreifende Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. Die Antwort: vom Rand aus, so wie es die AstronomInnen bei den Schwarzen Löchern tun. Man geht deduktiv vor, nähert sich dem Phänomen von seiner Wirkung her und zieht dann Rückschlüsse auf das Verborgene.

So haben es die alten Meister gehalten, etwa der in Caravaggios Licht-Schatten-Tradition stehende Godfried Schalcken: Auf seinem 1696 entstandenen Gemälde eines Jungen, der in eine Flamme bläst, sieht man die aufgeblähten Wangen und die mäandernde Flamme, aber den Luftzug natürlich nicht. Und beim Erlöschen von Luft und Licht verschwände auch das Bildmotiv, versänke im Dunkel.

Die Wirkung von Luftbewegungen hat auch der Maler Claude-Joseph Vernet 1782 im seiner „Küste bei Sturm“ verewigt, mit peitschender Gischt und einem schlingernden Schiff. Einen Hauch materieller wirkt der Odem des Westwind-Gottes Zephir in Botticellis Renaissance-Gemälde „Geburt der Venus“. Andere, wie der Norweger Johann Christian Dahl, haben einfach Wolken gemalt. Und Giuseppe Penone hat 1975 für die Fotoserie „Soffi“ weiße Partikel in einen Wald geblasen und fotografiert, wie sich die „Form“ des Hauchs verändert, wenn sie auf Hindernisse trifft. Das Ergebnis, wenig überraschend: Sie umfließt die Bäume, diffundiert um Materie herum, füllt den Raum zwischen den Dingen und zwischen den Menschen.

„Atmen“: bis 15. 1. 2023, Hamburger Kunsthalle.

Die stehen durch ihr Atmen ja im direkten Luftaustausch. Daran kann man in der Hamburger Ausstellung sogar partizipieren: Wenn man weiß, dass Lee Ufans kalligrafisch wirkende Bilder – graue Quadrate auf weißem Grund – in einem Strich parallel zum Atemrhythmus gemalt wurden, kann man mitatmen und nachspüren, wie der Atem die Bewegung führte.

Es geht aber auch beunruhigender: Laut und bedrohlich schallt ein Keuchen durch die Ausstellung. Hat man die Quelle gefunden, sieht man Valie Export in einem Video „Ich liebe dich“ sagen, immer frenetischer, gewalttätiger. Womit der Bogen geschlagen wäre zum Atem als Bedingung für Laute, Sprache, auch Musik: Sehr langsam geht in David Zink Yis Video ein Trompeter vom Atmen in das hohe C über. Nah an Bild und BetrachterIn spielt er, solange der Atem reicht, und man zittert mit, wie lange das wohl gut geht. Unweit davon: zwei Trompeten von Cornelia Parker, eine intakt und eine platt wie ein Luftballon, dem die Luft entwich. Keine Luft – kein Ton.

Und kein Leben. Auch von denen, denen man die Selbstverständlichkeit des Atmens nahm, erzählt die Ausstellung: vom Erhängen, Guillotinieren, Ersticken handeln alte Gemälde, neue Fotos und Installationen. Dirk Reinartz etwa dokumentiert Reste einer Gaskammer im einstigen KZ Stutthof. Lucinda Devlin hat eine US-amerikanische Gaskammer für zum Tod Verurteilte fotografiert – inklusive Zuschauertribüne. Und „I can’t breathe“ waren die letzten Worte des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, bevor er 2020 starb, weil ihm ein Polizist die Luft abdrückte.

Das Zitat ist zum Synonym rassistisch motivierter Polizeigewalt geworden, Ende des Jahres wird Jenny Holzer Floyd damit ein Denkmal setzen: Dann wird nachts ein Text an die Kunsthallen-Fassade projiziert: „Say his name – George Floyd. I can’t breathe man – please – please let me stand – ­please I can’t breathe“.

Verletzliche Menschheit

Aber die Botschaft des Werks reicht weiter: Atemluft darf weder Privileg noch Eigentum sein – wessen auch immer. Sie habe entdeckt, sagt die indische Aktionskünstlerin Vibha Galhotra, dass auf Amazon Atemluft verkauft werde. Genau daran fehlt es zum Beispiel in Delhi, der Stadt mit der weltweit schlechtesten Luft. Mit Atemschutzmaske und Schmetterlingsnetz steht die „Ökofeministin“ Galhotra auf einer smogumwaberten Müllkippe und „schnappt“ nach Luft. Oder sie befährt den durch die Stadt fließenden heiligen Fluss Yamuna, in den massig Industrie- und Privatabwässer fließen und in dem AnwohnerInnen trotzdem zur religiösen Reinigung baden, wie sie einmal erzählte.

Von einer „grundlegenden Verletzlichkeit als Wesen der Menschheit“ spricht in diesem Kontext der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe. Er fordert die Einführung eines allgemeinen Rechts auf Atem. Im Ausstellungskatalog schreibt er vom „Ausverkauf des Bodens durch tyrannische und korrupte Regimes und die Gewährung von Konzessionen an große Lebensmittelkonzerne“.

Ein Weiteres tut der ganz konkrete Krieg, durch Phosphorbomben oder Giftgas. Das Kollektiv „Forensic Architecture“ aus KünstlerInnen, ForscherInnen und JournalistInnen, das Menschenrechtsverletzungen, staatliche Gewalt und Umweltverbrechen aufdeckt, hat in einer riesigen Videoinstallation toxische Wolken dokumentiert, wie sie beim Abwurf von Chlorbomben auf Syrien entstanden oder beim Einsatz von Tränengas in Hongkong und Istanbul.

Krieg gegen die Atemluft kann aber auch Mini-Existenzen wie das Coronavirus führen. Als hätte er das vorausgeahnt, hat Makrus Schiwald 2017, lange vor Ausbruch der Pandemie, auf Auktionen Porträtbilder alter – ungenannt bleibender – Meister ersteigert. Die darauf Gezeigten stattet er mit Mund- und Nasenmasken aus, Zeichen von Distanz und Misstrauen gegenüber der restlichen Welt.

Zum lange überlieferten „bösen Blick“ ist der „böse Atem“ gekommen. Der Anhauch kann ein Mordinstrument sein. Oder aber längst begangene Morde sichtbar machen: Neun kleine runde Spiegel hat der kolumbianische Künstler Oscar Muñoz nebeneinander gehängt. Darin sieht man zunächst sich selbst. Tritt man aber näher und haucht auf die Spiegel, erscheinen eingravierte Porträts von Menschen, den Opfern von politisch motivierten Morden. Das ist klug gedacht, passt aber kaum in Corona­zeiten mit ihren Hygienebedürfnissen. Auch sind MuseumsbesucherInnen doch darauf konditioniert, Abstand zu den Exponaten zu halten, damit nicht die Alarmanlage schrillt.

Da beäugt man lieber Giuseppe Penones vasenartige Skulptur „Soffio“, die jenen Raum abbildet, den der Atem im Körper ausfüllt, das Volumen einer Lunge nämlich. Geht also doch, das Sichtbarmachen – poetisch. Noch zarter: David Claerbouts Foto zweier Vögel, dies- und jenseits einer Fensterscheibe. An einer Stelle ist die Scheibe beschlagen, nur ganz leicht; da, wo einer der Vögel hingeatmet hat.

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