Eine Person mit vier Augen

Das Kino von Jean-Pierre und Luc Dardenne lebt von seiner sozialen und cineastischen Kompromisslosigkeit. „L’enfant“, ihr jüngster Film, hat zwar noch keinen deutschen Verleih, läuft aber auf dem heute beginnenden Münchner Filmfest. Ein Porträt

Den Darstellern verlangen die Dardennes viel ab: Szenen werden oft repetiert, gedreht wird am frühen Morgen – oder im Winter

VON NICOLE HESS

Es scheint auf den ersten Blick ein Paradox zu sein. Zum zweiten Mal innerhalb von nur sechs Jahren haben die belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne in diesem Frühjahr die Goldene Palme von Cannes gewonnen. Am glamourösesten Filmfestival der Welt steigt ein Brüderpaar in den Olymp der doppelten Palmenwürde auf, das eines ganz bestimmt nicht ist: glamourös. Weder bei seinen Auftritten, die unter dem Signum der Bescheidenheit stehen. Noch im filmischen Oeuvre.

In regelmäßigen Abständen legen die Dardennes seit Mitte der Neunzigerjahre ihre sozialrealistischen Dramen vor, die an den Rändern der belgischen Gesellschaft oder sogar außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung spielen. Nicht die Schönen und Reichen stehen im Zentrum ihres cineastischen Interesses, sondern die Verlierer einer technologisierten und globalisierten Weltordnung. Arbeitslosigkeit, illegale Einwanderung, das tägliche Überleben: Das sind die Themen, die sich wie ein roter Faden durch die kraftvollen Filme der Wallonen ziehen. „Menschen, die man nicht mehr sieht, in den Mittelpunkt zu stellen, das interessiert uns“, sagt Luc Dardenne beim Gespräch in Brüssel. „Das ist eine Art Vergeltung für die Stimmung, die heute vorherrscht.“

Mit dem in Cannes ausgezeichneten „L’enfant“ („Das Kind“) stellen die Brüder nicht nur ihre virulente Zeitgenossenschaft unter Beweis. Sie liefern auch ein neues Exempel für ihre inszenatorische Meisterschaft, die darin besteht, einen sozial engagierten Stoff ohne jede Sentimentalität in ein physisch pulsierendes Kino zu verwandeln. Hauptakteur ist ein zwanzigjähriger Tagedieb und Bandenchef, der vor kurzem Vater geworden ist. Obwohl ihn mit der Mutter des Kindes eine ernsthafte Liebe verbindet, denkt dieser Bruno (Jérémie Regnier) nicht daran, das Metier der Kriminalität aufzugeben. Im Gegenteil: In einem Akt der Kopflosigkeit und Kälte verkauft er den kleinen Jimmy. Er deponiert das Menschenbündel in einer leeren Wohnung, nimmt dafür ein Bündel Banknoten entgegen – und erklärt der Mutter, als diese zusammenbricht: Macht doch nichts, dann machen wir eben ein neues.

Wie schon in „Rosetta“ (Goldene Palme 1999), in dem die Titelheldin wie ein Tier um ihr Leben kämpft – sie braucht Arbeit, einen Freund, eine Perspektive –, sind die Regisseure ihrem Protagonisten jetzt wieder dicht auf den Fersen. In hektischen Kamerabewegungen und abrupten Schwenks werden menschliche Beziehungen vermessen und ein Klima der Spannung und des Getriebenseins geschaffen.

Dem Kino der Dardennes ist immer etwas Existenzielles eigen. Das erklärt sich nicht nur aus der Notsituation, in der sich die meist jugendlichen Akteure befinden, und einem oft peitschenden Rhythmus der Filme. Sondern auch aus der Vorliebe für ausgedehnte Rückenaufnahmen, die seit „La Promesse“ („Das Versprechen“, 1996) zu einem konstituierenden Element ihrer visuellen Sprache geworden sind: „Wenn Sie jemanden von hinten filmen, sind Sie in seinem Geheimnis“, sagt Luc Dardenne. „Der Rücken ist der einzige Körperteil des Menschen, der sich von der Welt abwendet und den man von sich selber nicht sieht.“

Sowohl in „Rosetta“ als auch in „L’enfant“ reißen die Protagonistinnen, die Kamera im Nacken, den Zuschauer gleich in der ersten Szene mit rasanter Geschwindigkeit ins Geschehen. „Bruno, Bruno“, schreit die achtzehnjährige Sonia (Déborah François), den neugeborenen Jimmy im Arm, und rennt die Treppenstufen zur Wohnung hinauf, in der sie den Vater des Kindes vermutet. Doch die Türe bleibt verschlossen, der Gesuchte ist nicht da. Brutal wird die Dynamik der jungen Frau am Ende einer langen, ungeschnittenen Einstellung abgebremst, sie zurück an den Start beordert. Das Glück des einfachen Gelingens ist den Dardenne’schen Figuren fremd; ihr Schicksal ist eines der permanenten Widerstände.

In Szenen wie dieser zeigt sich nicht nur die Unerbittlichkeit, mit der die belgischen Filmregisseure ihre Protagonisten den Widrigkeiten des Alltags aussetzen (was nicht bedeutet, dass sie ausgestellt würden: Man spürt in ihren Filmen eine große Zärtlichkeit für die Figuren); es manifestiert sich in ihnen auch eine Körperlichkeit, die dem Werk der Wallonen schon die Formel des „Körperkinos“ eingetragen hat.

Zu diesem Eindruck trägt der familiäre Charakter der Dardenne’schen Filmproduktion bei, die sich aus einem kleinen Netz von Technikern (die Kamera führt immer der Belgier Alain Marcoen) und Schauspielern speist. Mit seiner untersetzten Statur, dem undurchsichtigen Blick und der latenten Gewaltbereitschaft, die von seinen Figuren ausgeht, hat der 41-jährige Olivier Gourmet bisher jedem Drama den Stempel aufgedrückt, selbst wenn er nur in einer kurzen Einstellung zu sehen war. Die Rolle des Schreinermeisters, der im klaustrophobischen Drama „Le Fils“ („Der Sohn“, 2002) einen Lehrling einstellt, der sich als Mörder seines Kindes entpuppt, schrieben ihm die Regisseure sogar auf den Leib.

„L’enfant“ bringt das Wiedersehen mit Jérémie Regnier, der in „La Promesse“ als gegen den Vater (Gourmet) revoltierender Blondschopf sein schauspielerisches Debüt gab. Wie Regnier diesen Bruno verkörpert, eine Mischung aus Verschlagenheit und Naivität, Berechnung und Hilflosigkeit, ist eine Klasse für sich. Die Performance des erst 24-jährigen Belgiers ist dabei auch Ausdruck der harten Schule, der die Dardennes ihre Darsteller auf dem Set zu unterziehen pflegen: Szenen werden so lange repetiert, bis sie in Fleisch und Blut übergangen sind; dann wird vornehmlich im Winter und vor allem in den Morgenstunden gedreht. Kaum verwunderlich, dass Emilie Dequenne („Rosetta“) und Olivier Gourmet („Le Fils“) in Cannes beide mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurden.

Schaut man sich derzeit auf dem europäischen Kontinent nach Regisseuren um, die sich dem klassischen Autorenfilm in vergleichbarer inhaltlicher und stilistischer Konsequenz verschrieben haben wie die Belgier, wird man so schnell nicht fündig. Vielleicht noch der Brite Ken Loach, der ihnen wegen seines versöhnlichen Humors etwas suspekt ist, oder der Deutsche Andreas Dresen, lassen sich mit dem Attribut des „sozialen Gewissens“ versehen. Ansonsten ragen die formal strengen Werke der belgischen Brüder wie Leuchttürme aus dem europäischen Koproduktionssumpf.

Die Geschlossenheit dieses Werks ist mithin auch das Resultat einer persönlichen und künstlerischen Ausnahmesituation: Im Industriegebiet um Lüttich/Liège unweit der deutschen Grenze geboren, sind Jean-Pierre (*1951) und Luc (*1954) Dardenne früh für die Probleme der Arbeiterklasse sensibilisiert worden. Die Landschaft ihrer Kindheit dient als Inspirationsquelle und Schauplatz ihrer Filme. Wie Phantome geistern frühere Schulkollegen durch ihre Erinnerung und werden in den Dramen zu neuem Leben erweckt.

Bereits in den Siebzigerjahren drehten die Brüder – der ältere ist ausgebildeter Schauspieler, der jüngere Philosoph – eine Reihe politischer Interventionsarbeiten auf Video. Anfang der Achtzigerjahre führte sie der Regisseur Armand Gatti zum Film. Es entstanden Dokumentationen über den Widerstand der Wallonen gegen Nazideutschland, den belgischen Generalstreik von 1960 oder die freien Radios in Europa. Bei all diesen Arbeiten spürten sie jedoch ein Unwohlsein, das sich aus der Inszenierung – sie sprechen von Manipulation – der Wirklichkeit für den Zweck des jeweiligen Dokumentarfilms ergab.

Der Wechsel zum Spielfilm war die logische Konsequenz ihres cineastischen Selbstverständnisses, das sich am Begriff der Wahrheit orientiert. Gleichwohl haben die Brüder aus der Zeit ihrer dokumentarischen Arbeit eine Erfahrung mitgenommen, die sie nun gewinnbringend auch in der Fiktion einsetzen: „Wenn Sie einen Dokumentarfilm drehen, dann leistet Ihnen der Mensch, den Sie filmen, einen gewissen Widerstand. Er macht, was er macht, und nicht, was Sie wollen. Egal, ob eine Kamera dasteht oder nicht.“

Seine Arbeitsweise hat das Paar einmal mit „Wir sind eine Person mit vier Augen“ umschrieben. Sämtliche Stationen des künstlerischen Prozesses werden gemeinsam bestritten. Luc schreibt das Drehbuch, Jean-Pierre formuliert die Einwände. Bis zu zehn Drehbuchversionen gehen so hin und her. Dann macht man das Casting, bestimmt die Location – und teilt sich beim Dreh auf: Während der eine bei den Schauspielern und Technikern ist, sitzt der andere am Monitor. Nach zwei, drei Einstellungen wird gewechselt.

Die Vertrautheit der Autoren ist mittlerweile so groß, dass sie unabhängig voneinander zu den gleichen Bildern gelangen. Intuitiv war beiden klar, dass in der Eingangssequenz zu „Le Fils“ die Kamera ganz langsam über den Rücken von Olivier Gourmet fahren muss. „Seit 25 Jahren reden wir über dasselbe, wir sehen dieselben Leute und versuchen denselben Film zu machen“, sagt Luc Dardenne. Wie selbstverständlich hat sich im Verlaufe der produktiven Symbiose immer stärker der moralische Kern ihrer Arbeit herausgeschält: „Wie kann ein Mensch nach einem Platz an der Sonne verlangen, ohne dass er den anderen in der Kälte stehen lässt? Das ist die zentrale Frage. Die stellt sich auch im Leben all der Menschen, die keine materiellen Probleme kennen. Nur etwas anders.“