Der Hausbesuch: Sie hat zwei Leben in einem

Meera Ramesh wächst in Indien auf, sieht nach der Heirat die halbe Welt. Erst in Deutschland aber kann sie ihren Traum leben: Medizin studieren

Meera Ramesh steht in einem orangefarbenen Sari vor einem roten Ledersofa

Die Psychia­terin Meera Ramesh in ihrem Ham­burger Wohnzimmer Foto: Miguel Ferraz Araujo

Sie lebe immer noch ein bisschen wie eine Studentin, sagt die Psychiaterin Meera Ramesh, als sie in ihrer kleinen Küche in Hamburg Kaffee aufbrüht. „Aber es gefällt mir hier eben immer noch.“

Draußen: Veilchenweg heißt die Bushaltestelle direkt vor dem Haus. Der Name ist irreführend, denn Meera Ramesh wohnt an einer vielbefahrenen Straße in Hamburgs Bezirk Eimsbüttel. Vor ihrem Küchenfenster ein Fußballplatz, hinter Bäumen das Universitätsklinikum Eppendorf. Der Lärm störe sie nicht. „Ich schlafe nach hinten raus“, sagt die 62-Jährige. Seit 2005 wohnt sie in der Genossenschaftswohnung.

Wohnsiedlung mit geklinkerten Häusern, auf dem Gehweg etwas Laub - Herbststimmung

Draußen: Eine Genossenschaftswohnung in Hamburg-Eimsbüttel

Drinnen: Zwei Zimmer bewohnt sie. Fotos von ihrer Familie, wohin man blickt, Andenken aus aller Welt, auf einem kleinen buddhistischen Schrein brennen Kerzen. Zeitungsausschnitte zeugen von ihrem alten Leben, mit Chauffeur und mehreren Hausangestellten: sie im bunten Sari, als Frau des indischen Generalkonsuls in Hamburg. Heute, 30 Jahre später, trägt sie ein blaues Etuikleid und das schwarze, dicke und mit grauen Strähnen durchzogene Haar als Zopf.

Herkunft: Sie wächst in Kerala, einem Bundesstaat im Südwesten Indiens, als älteste von drei Geschwistern auf. Die Kindheit beschreibt Meera Ramesh als behütet, die Eltern als konservativ. Ihr Vater hat eine Baufirma, die Mutter ist Hausfrau. Der größte Wunsch des Vaters: Eines der Kinder soll Medizin studieren, ob Sohn oder Tochter, das ist ihm gleich. Ärztin zu werden, das ist auch ihr Traum. Doch als sie 1975 im Alter von fünfzehn Jahren die Schule beendet, entscheidet sie sich wegen der Zulassungsbeschränkung für ein Bachelorstudium in Physik. „Ich habe das gemacht, um möglichst viele Punkte zu holen für Medizin.“ Sie will in Zukunft vor allem eins sein: selbstständig und unabhängig.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Ehe: Sie ist zwanzig, als ihre Mutter ihr sagt, dass ein junger Mann um sie werbe. Sie wusste, dass die Eltern den Ehemann auswählen, doch sie hatte gehofft, dass es noch dauert. Er ist zehn Jahre älter und Diplomat in Portugal. „Meine Eltern wollten unbedingt, dass es klappt, für sie hat alles gepasst, Familie, Bildung und Religion.“ Sie indes hofft, dass er sagt, sie sei nicht gut genug.

Alles geht schnell: Ende April 1980 ist ihre letzte Prüfung an der Uni, im Juni besuchen er und seine Familie die ihre – und willigen in die Verbindung ein. Eine Woche später, am 23. Juni, heiratet das „Paar“. Der Vater macht Druck, Verwandte sind gerade zu Besuch. Sie habe den Mann nett gefunden, erinnert sie sich. „Er war sehr belesen. Damals habe ich mich ein bisschen dumm gefühlt neben ihm.“ Sie will die Welt sehen, andere Kulturen kennenlernen, in der Hochzeit mit einem Diplomaten sieht sie ihre Chance. „Für mich wäre das als indische Frau alleine nie möglich gewesen.“

In die Welt: Ihr Mann wird an die indische Botschaft in Brasilien versetzt, sie ziehen in die Hauptstadt Brasilia. Ein Jahr später ist sie schwanger. „Ich hatte furchtbares Heimweh und habe mich sehr verloren gefühlt, ich sprach kein Wort Portugiesisch. Dauernd sollten wir Leute nach Hause einladen, dabei hatte ich null Ahnung, wie man kocht, es war die Hölle.“ Nach Hause telefonieren ist zu teuer, Briefe dauern zu lange. Als sie im sechsten Monat ist, kehrt sie zu ihrer Familie zurück, allein. Ende Oktober 1981 kommt ihr Sohn zur Welt, bei ihren Eltern lernt sie Autofahren und Kochen. „Ich war damals so unendlich glücklich, wieder zu Hause zu sein.“

Wiedersehen: Als ihr Mann nach Indien kommt, hat sie ihn ein ganzes Jahr nicht gesehen, seinen Sohn kennt er nur von Fotos. „Das war eine finanzielle Sache, in drei Jahren stand Diplomaten nur eine Reise in die Heimat zu.“ Ihr Mann hat Sorge, dass sie es nicht alleine schaffen mit dem Kind in der Fremde, deshalb bleibt auch er von 1982 bis 1984 in Neu-Delhi. Meera Ramesh denkt gerne an die Zeit zurück, ihre Eltern kommen oft, sie beginnt, in einer Grundschule zu unterrichten.

Auf Reisen: Weil ihr Mann in Indien wenig verdient, gehen sie wieder auf diplomatische Mission ins Ausland. Zuerst nach Mosambik. Dort lernt sie Bridge spielen und reist viel, besonders Swasiland hat es ihr angetan. „Alle anderen machten Urlaub in Südafrika, das war uns wegen der Apartheid verboten.“ Wieder wird sie schwanger und auch ihr zweites Kind, ein Mädchen, kommt in Indien zur Welt. Die nächste Station, auf die ihr Mann geschickt wird, ist die österreichische Hauptstadt Wien. „Was für eine prachtvolle Stadt, was für eine Kultur“, schwärmt Meera Ramesh. Sie versucht in Kontakt zu kommen mit den Österreicher:innen. „Ich habe sogar angefangen, Deutsch zu lernen, aber ich hatte das Gefühl, dass niemand mit mir sprechen will.“ Was sie aber vom Leben eigentlich will, gerät allmählich in Vergessenheit. „Ich war mit den Kindern beschäftigt, und damit, Menschen zu treffen und Partys zu organisieren.“

Konflikt: Als ihr Mann nach Bagdad versetzt wird, lehnt sie sich erstmals auf. Damals ist der Krieg zwischen dem Irak und Iran gerade erst vorbei. „Mit zwei Kindern gehe ich nicht dahin, habe ich zu ihm gesagt.“ Es sei der erste große Streit des Paares gewesen, sagt sie. „Ich war wirklich dagegen. Er hätte nein sagen können, aber er hat es nicht getan.“ Schließlich fügt sie sich, ist vom Land und den Leuten positiv überrascht. „Wir wurden von den Einheimischen sehr freundlich empfangen.“

Krisen: 1990 stirbt ihr Vater. Nur drei Wochen nach der Hochzeit des Bruders, der sich als Erster in der Familie die Frau selbst ausgesucht hatte. Wenige Tage später greift der Irak Kuwait an, In­de­r:in­nen werden evakuiert. Für die Trauerfeier ist sie mit den Kindern bei der Familie, trotz der Golfkrise will sie zurück nach Bagdad. Das ist im August. Im September gibt es eine klare Ansage der UN: Alle Familien müssen zurück. Sie schickt die Kinder nach Indien und bleibt. Warum? „Ich wollte an der Seite meines Mannes sein.“ Tagsüber kann man sich frei bewegen, nachts gibt es Bombenalarm. Die Frage, ob sie Angst gehabt habe, verneint sie. „Ich war immer ein mutiger Mensch, mein Mann war ängstlich, deshalb musste ich mutig sein.“ Die Kinder kommen in Indien auf ein Internat. Dann stirbt Rameshs Bruder bei einem Verkehrsunfall. „Das war absurd. Wir überleben den Krieg und dann das. Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen.“

Eine kleine goldene Figur - hinduistische Gottheit steht auf einer Anrichte

Drinnen: Erinnerungen an das alte Leben in Indien Foto: Miguel Ferraz Araujo

Glücklich in Indien: Sie kehrt nach Neu-Delhi zurück, will bei ihrer Mutter und ihrer Familie sein. Sie beginnt ein Fernstudium für Lehramt, macht ein Praktikum ganz in der Nähe der Schule. „Damals waren wir alle zusammen, meine Mutter war oft bei uns, das war ein gutes Leben.“ Drei Jahre bleibt sie. „Damals habe ich meine Wurzeln gespürt, ich war so glücklich in Indien.“

Erneuter Aufbruch: Im Jahr 1996 zieht die Familie weiter, nach Deutschland, Hamburg. „Ich fand Hamburg schon von oben wunderschön.“ Sie leben luxuriös an der Außenalster. Sie ist 36 und hat endlich wieder etwas Zeit für sich, fährt fort, Deutsch zu lernen, freundet sich mit anderen Inderinnen an. Eine ist noch nach der Geburt des Sohnes Ärztin geworden. Alter spiele in Deutschland keine Rolle, sagt die Freundin, sie solle sich bewerben, habe nichts zu verlieren. Heimlich bewirbt sie sich für einen Medizinstudien­platz – und bekommt ihn. Sie zweifelt, doch ihre damals dreizehnjährige Tochter bestärkt sie, auch ihr Mann ist einverstanden. 440 Stunden Deutschunterricht sind Voraussetzung für das Studium, sie büffelt wie verrückt. Im Jahr 1999 kann sie das Studium beginnen; 2000 geht ihr Mann mit der Tochter nach Tripolis in Libyen, seine nächste Stelle. In den Semesterferien besucht sie die beiden. Der Sohn studiert inzwischen in Australien.

Lehrjahre: Auf ihrem Schreibtisch steht ein Foto ihrer verstorbenen Freundin Emma Erbst. Die ältere Dame lernt sie in dem Seniorenheim kennen, in dem sie sich ehrenamtlich engagiert. „Sie war die Erste, der ich vom Studienplatz erzählt habe. Sie hat sich riesig gefreut.“ Die ehemalige Biologielehrerin beschafft ihr die Genossenschaftswohnung, unterstützt sie. Als Meera Ramesh das Physikum besteht, weiß sie: Es soll so sein. Auch das zweite Staatsexamen besteht sie. Sie entscheidet sich, in Deutschland zu bleiben. „In Indien wäre ich belächelt worden, in meinem Alter, das wollte ich mir nicht antun. Und an der Seite meines Mannes hätte ich nicht als Ärztin arbeiten können.“ Ärztin zu sein, das erfülle sie mit Glück.

Ausblick: Ihre Kinder leben mittlerweile in den USA. Ihr Mann ist an Krebs gestorben. Neben Indien sei Hamburg jetzt für sie eine Heimat geworden. „Hier habe ich sogar Fahrradfahren gelernt“, sagt sie lachend.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.