Wahlchaos in Berlin: Wahlwiederholung wahrscheinlich

Die Abgeordnetenhaus- und zu den Bezirksparlamentswahl müssen wiederholt werden. Darauf deutet die Bewertung des Verfassungsgerichts hin.

Menschen vor einem Wahllokal

Zahlreiche Wählerinnen und Wähler warten im September 2021 darauf, ihre Stimme abgeben zu können Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

BERLIN taz | Berlin steht die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksparlamenten bevor. Darauf deutet die Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichshofs hin, die dieser zu Beginn einer Anhörung am Mittwoch abgab. „Nur die vollständige Wiederholung der Wahlen kann deren Verfassungskonformität wieder herstellen“, erklärte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting. Sie betonte zugleich, dass diese Entscheidung noch nicht endgültig sei, sondern „an der ein oder anderen Stelle“ verändert werden könne. Eine finale Entscheidung wird bis Ende des Jahres erwartet, die mögliche Wahlwiederholung müsste dann innerhalb von drei Monaten stattfinden.

Eine Klatsche für die Senatsverwaltung für Inneres und die ihr unterstehenden Landeswahlleitung waren Seltings Aufzählungen allemal. Dezidiert rechnete Selting vor, dass schon im Vorfeld der Wahlen schwerwiegende Fehler begangen wurden: Die Anzahl der notwendigen Wahlkabinen sei falsch berechnet und oftmals seien zu wenige Wahlzettel zu spät verteilt worden.

Die Folge: Lange Schlangen vor vielen Wahllokalen, die teilweise wegen fehlender Stimmzettel geschlossen werden mussten. Insgesamt seien die Wahllokale während der Abstimmungszeit 83 Stunden geschlossen gewesen, wie sich aus den Unterlagen der Wahllokalleiter ergeben habe. Doch das, so Selting, sei nur die „Spitze des Eisbergs“. Denn die Dokumentationen der Wahllokalsleiter seien wegen deren Überlastung unvollständig. Durch die Schließung sei die Öffentlichkeit der Wahl verletzt worden; schuld daran sei vor allem die Innenverwaltung.

Auch dass nach 18 Uhr noch viele Wahllokale geöffnet waren, kritisierte das Gericht. Insgesamt, so dessen Rechnung, seien Wahllokale mehr als 350 Stunden nach 18 Uhr noch geöffnet gewesen. Die Schlussfolgerung: „Niemand wird herausfinden, wie viele Leute nicht gewählt haben und wie viele nach 18 Uhr nicht unbeeinflusst ihre Stimme abgegeben haben“, sagte Selting.

Auch kleine Fehler haben Wirkung

Im Vorfeld der Anhörung hatten viele Ex­per­t*in­nen und auch Abgeordnete der rot-grün-roten Koalition darauf hingewiesen, dass es zwar zahlreiche Fehler gegeben habe, dass diese aber in den wenigsten Fällen auch mandatsrelevant gewesen seien. Das heißt, sie hätten keine konkrete Auswirkungen auf die Sitzverteilung des Abgeordnetenhauses gehabt.

Ludgera Selting, Gerichtspräsidentin

„Schon die unzureichende Vorbereitung stellt einen Wahlfehler dar“

Dieser Einschätzung erteilte das Verfassungsgericht eine klare Absage: Veränderungen der Sitzverteilung könnten bereits durch kleinste Fehler entstehen; Selting nannte eine „dreistellige Zahl“ für ausreichend. Zudem seien die Fehler flächenübergreifend in „mehr oder weniger großem Ausmaß“ in allen Wahlkreisen aufgetreten. Das Vertrauen der Bür­ge­r*in­nen in die Wahl würde dauerhaft beschädigt, wenn die Wahlen sowohl für das Abgeordnetenhaus wie auch für die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen nicht wiederholt würden.

Am 26. September 2021 standen in Berlin vier Abstimmungen an: Gewählt wurden Bundestag, Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente, zudem wurde über den Enteignen-Volksentscheid abgestimmt. Parallel fand dazu der Berlin-Marathon mit zehntausenden Teil­neh­me­r*in­nen und Zu­schaue­r*in­nen statt, der weite Teile der Innenstadt blockierte. Außerdem galten umfassende Corona-Auflagen.

Was die Gültigkeit der Bundestagswahl angeht, hat die Sitzung keine direkte Bedeutung; darüber entscheidet der Bundestag selbst. Bereits im Mai hatte allerdings der Bundeswahlleiter eine Wiederholung der Wahl in sechs der zwölf Berliner Wahlkreise gefordert. Eine Entscheidung wird in den nächsten Wochen erwartet.

Politische Debatte hat begonnen

In Berlin hat die politische Debatte indes längst begonnen: „Franziska Giffey ist mit dem heutigen Tage nur noch eine Regierende Bürgermeisterin auf Abruf“, erklärte Stefan Evers, Generalsekretär der Berliner CDU. Deutlicher hätte das Gericht nicht werden können. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD Andreas Geisel nach diesem Tag nicht selbst zum Rücktritt auffordert.“

Torsten Akmann, Staatssekretär der Innenverwaltung, erklärte, es sei unstreitig, dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei am 26. September 2021. „Das hat dazu geführt, dass das Vertrauen der Ber­li­ne­r*in­nen in die Wahl zurecht beeinträchtig worden ist.“ Er könne jedoch ausschließen, dass sich solche Wahlfehler noch einmal wiederholen würden. Seiner Meinung nach habe sich das Gericht „fair und mit Nachdruck“ schwierigen juristischen Fragen angenommen. Darüber hinaus mochte er sich nicht weiter zu der Darstellung des Gerichts äußern, da diese noch nicht final sei.

Sebastian Koch, der Geschäftsführer der Berliner Linkspartei, sprach von „bestürzenden Fehlern und Pannen“. Nun werde man das Ergebnis der Verhandlung abwarten, aber bereits „die entsprechenden Vorbereitungen für eine mögliche Wiederholungswahl treffen“.

Für den weiteren Verlauf der Verhandlung war die Anhörung der ersten Beteiligten geplant. Die neun Rich­te­r*in­nen wollten sich zunächst nur mit vier von 35 eingereichten Einwänden befassen – jenen von der Landeswahlleitung, der Senatsinnenverwaltung sowie von AfD und Die Partei. Diese Verfahren seien geeignet, „alle relevanten Fragen im Zusammenhang mit dem Wahlgeschehen abzudecken“, hatte das Gericht im Vorfeld mitgeteilt.

Wegen der vielen Beteiligten – dazu gehören neben den Antragstellern unter anderem die Landeswahlleitung, Abgeordnete sowie betroffene Bewerberinnen und Bewerber – wurde in einem Hörsaal der Freien Universität verhandelt. In diesem ist Platz für insgesamt 570 Menschen.

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