Vom Wert der Besonnenheit: Kraftmeier und Leisetreter

Empört euch nicht nur! Vom Vorteil des Linksliberalismus für das Leben – vorgelebt vom Anführer der österreichischen Sozialisten im 19. Jahrhundert.

Portrait des österreichischen politikers Victor Adler

Bemühte sich stets, beide Seiten zu sehen: Victor Adler, Gründer der österreichischen Sozialisten Foto: Anonym/Brandstaetter images/picture alliance

Victor Adler, der legendäre Gründer und Anführer der österreichischen Sozialisten im 19. Jahrhundert, war einmal von irgendeiner Partei-Unterorganisation eingeladen, um über das „Parteiprogramm“ zu reden. Seinem Freund Karl Kautsky berichtete er, dass „ein gescheiter Genosse“ hinterher gemeint habe, er – Adler – habe gar nicht „über“, sondern „gegen das Programm“ geredet. Tatsächlich habe er einige Phrasen und „Generalisierungen“ der eigenen Leute durch den Kakao gezogen, Schlagworte und Kraftmeierslogans. Bei anderer Gelegenheit gestand Adler ein, „dass ich mich bemühe, bei allen Dingen beide Seiten zu sehen“. Mentalitätsmäßig war Adler wohl das, was heutige junge Sektierer und Eindeutigkeitsfanatiker „Liberalo“ nennen. Also so eine Art „Linksliberaler“.

Was „Linksliberalismus“ heißt, ist sowieso nicht ganz klar. Ist damit eine umfassende Programmatik gemeint, eine weltanschauungsmäßige Eigenständigkeit? Dann gehört zu dieser ein Paket, das Demokratisierung umfasst, eine prinzipientreue Pro-Freiheitshaltung und eine im weitesten Sinne keynesianische Wirtschaftstheorie, die Wohlfahrt für alle, Regulierung wild gewordener Märkte erstrebt, aber auch skeptisch ist gegenüber Staats- und Planwirtschaft. Ein solcher grundlegender Linksliberalismus will Machtprivilegien schleifen und die Zwänge bekämpfen, die Menschen knechten – von Armut und Ungleichheit bis Konventionen und Diskriminierungen. Er versucht, Freiheit und Gleichheit zu verbinden.

Es gibt aber auch eine schwächere Form von „Linksliberalismus“, die mehr Mentalität und geistige Lebensform ist. So wie Adler: Der war ja nicht linksliberal. Er war ein Linker. Aber eben ein schlauer. Einer, der den simplen Phrasen und Eindeutigkeiten misstraute. Der bei allen Dingen „beide Seiten“ sah.

Nun kann man dieses „Von allen Dingen beide Seiten“-Sehen auch auf den Linksliberalismus selbst anwenden, der einen „Nutzen und Nach­theil für das Leben“ hat, um Nietzsche eine Phrase aus anderem Kontext zu klauen. Er nimmt überall das Einerseits und Andererseits wahr, ist wach für Ambivalenzen und Graustufen, und wenn er dann alle Für und Widers wahrgenommen hat, dann ist viel Zeit vergangen und bei so viel Pro und Contra weiß er am Ende nicht mehr, was er tun soll. Zu viel kluge Abwägerei macht auch handlungsunfähig. Das Gute an der linksliberalen Mentalität: Man hat als Linksliberaler in diesem Wortverständnis nicht eine eindeutige Meinung. Das Schlechte: Man hat meist zwei, oft sogar drei oder vier gleichzeitig. Die Vereindeutigung der Welt ist laut und auftrumpfend, die Vervieldeutigung ist ruhig, nachdenklich und zweifelnd. Was ihre Stärke ist, ist zugleich ihre Schwäche.

Insofern finde ich es richtig lustig, wenn Leute wie Precht oder Welzer in die Welt posaunen, „in den Medien“ komme nur eine Meinung vor. Wo ich doch selbst schon zu jedem Thema drei Meinungen habe und die kommen eigentlich alle vor.

Die Vereindeutiger klagen empört an, dass „die unfähige Regierung“ (oder wer auch immer) zu einem beliebigen Problem nicht die perfekte Lösung aus einem Guss ausarbeitet. Das klingt überzeugend und kommt manchmal sogar bei Leuten gut an, die genau wissen, dass es die „perfekte“ Lösung nicht gibt. Nehmen wir die gegenwärtige Inflation. Die kann man bremsen, man kann mit verschiedenen Maßnahmen gegensteuern, man hat zeitgleich die Frage der Versorgungssicherheit sowie die der Leistbarkeit zu berücksichtigen (und noch hundert Variablen dazu) – aber nichts wird jemals perfekt sein.

Oder in der Kriegsfrage: Einer imperialen Despotie ist entgegenzutreten, die Ukraine muss unterstützt und das Putin-Regime geschwächt werden. Zugleich braucht es aber Besonnenheit und es ist nicht irre, die Frage zu stellen, wie man Putin und seiner Kamarilla einmal einen gesichtswahrenden Ausweg eröffnen kann. Mit jemandem, der einen imperialen Eroberungs- und Auslöschungskrieg führt, ist schwer zu verhandeln, gegen jemanden, der ein großes Nukleararsenal besitzt, ist andererseits ein Siegfrieden ziemlich unrealistisch, wie Jürgen Habermas etwa im Frühjahr in der Süddeutschen schrieb. Habermas wurde schwer geprügelt für diese Meinung. Ich war nicht von jedem Aspekt der Habermas’schen Ableitung völlig überzeugt, aber sie ist auch nicht so abwegig, dass ich mich über sie empören könnte.

Den Anderen als Scheusal darstellen

Wie erwähnt, habe ich zu vielen Fragen nicht eine Meinung, sondern drei, aber es gibt durchaus auch Meinungen, die ich nicht vertrete, sogar relativ viele. Es gibt heute allerdings die verbreitete Obsession, jeden, der eine andere Meinung vertritt, zum Verräter, Feind oder Schlimmeren zu stempeln, und zu diesem Zweck irgendeinen Halbsatz zu finden, den man möglichst fies verdrehen kann, um diesen Anderen als Scheusal darzustellen. Dieser Andere und dessen Meinung soll als mindestens nicht achtenswert erscheinen, oft geht das mit der Forderung einher, dass diese Meinung nicht mehr öffentlich vorkommen solle.

Linke, Rechte, Mitte und ganz normale Trottel sind mittlerweile ähnlich geübt in dieser Operation. Es ist freilich ein charakteristisches Merkmal einer Debatte, dass dabei auch Meinungen geäußert werden, die ich nicht teile, denn ein Diskurs, in dem nur meine Meinung vorkäme, wäre keiner. Es ist auch eine der unangenehmen Charakteristika von „Gesellschaft“, dass sie ein Puzzle von Minderheiten ist, und aus unterschiedlichen Ansichten eine Balance und ein wackeliger Konsens gefunden werden muss.

Die starken Emotionen – Wut, Angst, Empörung – sind aufseiten der populistischen Versimpelungen; die linksliberale Mentalität hat die Wucht des großen Gefühls eher nicht auf ihrer Seite. Man müsste Besonnenheit und Entschiedenheit unter einen Hut bringen, Nachdenklichkeit ohne Antriebslosigkeit hinkriegen. Das ist nicht leicht, aber wir sind ja auch nicht auf der Welt, damit wir es leicht haben.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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