Premiere in Kammerspielen München: Wo bleibt der Sinn für die Sünde?

Die Texte der Surrealistin Claude Cahun sind eine Entdeckung. Pīnar Karabulut inszeniert ihr Spiel mit Identitäten und Geschlechterrollen.

Die Szene ist in lila getaucht, drei Menschen sitzen im Schaum einer Wanne

Aus dem düsteren Meer wird ein helles Schaumbad in der Münchner Inszenierung Foto: Krafft Angerer

Na also, die Neunziger sind auch in München zurück: Techno-Kitsch wie gebauschte Wolken, pastellige Muscheln, blinkende Herzen, blitzende Spiegel überall. Dazu Emo-Frisuren mit schwarzem Pony, der ein Auge bedeckt, poppiges Pink und grelles Lila, Leggings und meterhohe Plateausandalen (Kostüme: Claudia Irro).

Das Bühnenbild (Aleksandra Pavlović) verspricht ein mittelgroßes Spektakel, mindestens aber, dass an diesem Abend die Gummibärenbande ihren Weg in den Werkraum der Münchner Kammerspiele findet und über die eisglatte, voll verspiegelte Bühne tobt. Es kommt dann doch anders: Drei Emo-Hexen unterschiedlichen biologischen Geschlechts treffen sich zum konspirativen Schäumen über Freiheitsbeschränkungen und Genderrollen.

Die Textvorlagen kündigen eine einmalig radikale Antwort an, die Inszenierung allerdings, das vorweggenommen, liefert maximal eine lauwarme Dusche. Das knallbunte Treiben basiert auf Texten der jüdischen Pariserin Claude Cahun (1894–1954). „La mer sombre“, das dunkle Meer, wie die Aufführung überschrieben ist, befasst sich mit unseren allerdüstersten Begierden.

Geschlecht und Identität? Ein unverbindlicher Vorschlag

Claude Cahun ist eine veritable Entdeckung: Die Fotografin wohnte in einer lebenslangen Partnerschaft mit ihrer Stiefschwester zusammen, umgab sich mit der Pariser Bohême der Zwischenkriegszeit und frequentierte – unter anderem im Pariser Buchladen Shakespeare’s Company der Buchhändlerin Sylvia Beach – jene „Lost Generation“ aus jungen, von den Kriegen ihrer Zuversicht und Zukunft beraubten Autoren, die in großer Sittenverachtung Lebensentwürfe jenseits überkommener gesellschaftlicher Vorstellungen zu denken wagten – und zu leben.

Geschlecht und Identität versteht Cahun als rein performativ, als unverbindlichen Vorschlag zur Lebensgestaltung. Diese damals revolutionären Gedanken verankert sie im Symbolismus und der griechischen Antike, deren Erbe bis heute unser Verständnis von Lust und Sünde mitprägt, von drinnen und draußen.

Als Textvorlagen dienen der Aufführung „Vues et Visions“ (Ansichten und Visionen, 1919), „Héroïnes“ (Heroinnen, ab 1925 in Zeitschriften publiziert) und „Aveux non Avenue“ (Uneingestandene Geständnisse, 1930). Teils werden Cahuns Libertinage-Gedanken erst im Herbst 2022 erstmals auf Deutsch erscheinen – und allein diese Texte zusammenzuführen ist eine Leistung der 35-jährigen Regisseurin Pīnar Karabulut, die zum künstlerischen Leitungsteam der Kammerspiele gehört.

Die Dialoge sind entsprechend assoziativ und frei, und sie werden in durchaus passende, surrealistische und verspielte Bilder übertragen. Mann, Mann und Frau versuchen, die Dualität zwischen den Geschlechtern in Text und Bewegung aufzulösen, die uns einerseits allen gemein ist und uns andererseits doch in mindestens zwei Gruppen trennt, die in jedem Fall aber unnötig einschränkt. Die drei verlorenen Seelen (Thomas Hauser, Christian Löber, Gro Swantje Kohlhoff) stehen sich gegenüber und reiben sich aneinander, schmettern dusselige Popsongs und landen gemeinsam in einer überschäumenden Badewanne.

Ein Problem aber hat die Inszenierung: Sie macht Spaß, geht aber emotional nicht tiefer als eine Zirkusaufführung. Die drei Darsteller sehen anziehend aus in ihrer rosa Fabelwelt. Sie sind gleichermaßen athletisch, feingliedrig und alle drei im besten Alter sexueller Erweckung. Sie können Leggings, Cut-outs und Badeschaum mit reichlich Grazie tragen.

Wo bleibt der Ausbruch, der Grenzübertritt?

Wo aber, fragt man sich nicht nur einmal, bleibt der Ausbruch aus der Konvention? Wo ist das Skandalöse, der revolutionäre Grenzübertritt, der in den Texten und im Leben Cahuns doch angelegt wäre? Reichen poppige Songs und hingeweinter Weltschmerz denn schon, um die Fragen – die Claude Cahun in ihrer eigenen Biografie so viel radikaler beantwortet hat – künstlerisch umzusetzen? Oder hat man es hier mehr mit einer Bebilderung eines Lebensgefühls zu tun, die so normschön bleibt, dass man der ganzen Show das Ringen um Alternativen nicht abnimmt?

Was der Inszenierung fehlt, ist ein wahrnehmbarer Bruch, der Kante und Charakter zeigen würde. Die Herrschaften auf der Bühne sind halt alle drei so weiß, so glatt, so textsicher und so perfekt – jeder Ton sitzt, jeder Satz passt, jede Bewegung ist ein ästhetisches Schauspiel langgezogener Sehnen und kompakter Muskelgruppen –, dass sich kaum Spannung oder auch Lust aufbauen kann.

Bilder einer blitzenden Pa­ral­lel­re­alität ziehen vorbei, ein klitzekleiner Eskapismus gelingt vielleicht – aber der Eintritt in die komplexe Text­vorlage bleibt versperrt. Die Sache mit der Freiheit scheint binnen weniger Minuten auserzählt, zurück bleibt nur: ein kleiner Schwips, ein Schluckauf, wo doch ein Vollrausch der Gefühle dringewesen wäre.

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