Forscher über spanisches Schulsystem: „Die Armen wieder­holen häufiger“

Im OECD-Vergleich bleiben spanische Schüler häufig sitzen. Bildungsforscher Lucas Gortazar sagt, was die Misere mit Napoléon zu tun hat.

SchülerInnen sitzen in Kabinen und arbeiten am Computer

In Spanien wiederholt fast jeder dritte Schüler die Klasse – hier Grundschüler in Valdeluz Foto: Alexander Ingram/TNYT/laif

taz: Herr Gortazar, in Spanien bleiben jedes Jahr über 8 Prozent der Schülerinnen und Schüler in der Mittel- und Oberstufe sitzen. Das ist traurige Spitze in Europa. Wie ist das zu erklären?

Lucas Gortazar: Um die Ursachen für das häufige Sitzenbleiben verstehen zu können, müssen wir fast 200 Jahre in der Geschichte zurückgehen und uns das moderne Schulsystem in Frankreich anschauen. Von dort nämlich hat Spanien – und der Rest Südeuropas – fast alles kopiert. Osteuropäische Länder hingegen haben sich vor allem an Deutschland und später an der Sowjetunion und Skandinavien orien­tiert.

ist Ökonom und arbeitet beim Centro de Políticas Económicas (EsadeEcPol) in Barcelona im Bereich Bildung und Bildungsfinanzierung.

Was bedeutet das?

Das französische Bildungssystem geht auf Napoléon zurück. Die grundlegende Idee dabei sind nationale Prüfungen für alles: Abschluss an der Schule, Aufnahme in die Universität oder den Staatsdienst. Wer besteht, hat gewonnen, wer durchfällt, steht mit leeren Händen da. Dieses System hat auch seine Auswirkungen auf die Schule als solches. Daher die Idee, das Schuljahr zu bestehen oder eben zu wiederholen, wenn ein bestimmter Teil der Fächer nicht bestanden wird.

Napoléon ist schuld am schlechten Abschneiden spanischer Schüler?

Die Quote der Sitzenbleiber ist überall dort hoch, wo Frankreich kulturellen Einfluss hat: Südeuropa und Teile Afrikas. In Spanien wiederholen knapp 29 Prozent der Schüler im schulpflichtigen Alter zwischen 6 und 16 Jahren mindestens einmal ein Schuljahr. In Europa liegt nur Belgien mehr oder weniger gleichauf mit Spanien, wenn es ums Wiederholen eines Schuljahres geht. Ansonsten müssen wir schon nach Lateinamerika schauen, um ähnlich hohe Quoten zu finden.

Okay, es ist das französische System, aber warum so viele in Spanien? Die Kinder sind hier doch sicher nicht dümmer als sonst wo?

Natürlich hat das nichts mit den Kindern zu tun, sondern mit dem Bildungssystem. Die Kinder sind hier genauso lernwillig wie überall. Es geht um die allgemeine kulturelle Vorstellung von Schule. Das wiederum beeinflusst die Lehrkräfte und den gesamten Schulbetrieb. Ein Kind, das in Sevilla zur Welt kommt und bestimmte Fähigkeiten mitbringt, hätte mehr Chancen, wenn es in Deutschland zur Welt gekommen wäre. Dort hätte es das Schuljahr eher nicht wiederholt, in Sevilla schon. Es ist eine Entscheidung des Schulsystems, wie es mit lernschwachen Kindern umgeht.

Die Studie Diese Woche veröffentlicht die OECD ihre jährliche Studie „Bildung auf einen Blick“. Darin vergleicht sie die Bildungssysteme von 38 OECD-Ländern und 7 Partnerländern. Schwerpunkt in diesem Jahr ist die tertiäre Bildung, also Hochschulabschlüsse. Die höchsten Quoten bei den 25- bis 34-Jährigen erreichen Korea (69 Prozent) und Kanada (66 Prozent). Der OECD-Schnitt liegt hier bei 48 Prozent. Deutschland kommt auf 36 Prozent.

Schulabbrüche In Spanien liegt der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Schulabschluss bei 28 Prozent und damit doppelt so hoch wie der OECD-Schnitt. Das ist Spitze in Europa. Nur die Türkei (36 Prozent) sowie Costa Rica und Mexiko (je rund 45 Prozent) schneiden schlechter ab. Frühere OECD-Studien zeigen auch, dass nirgends so viele Schüler ein Schuljahr wiederholen wie in Spanien. 8,7 Prozent der Schüler in den ersten zwei Jahren der Oberstufe wiederholen und 7,9 Prozent deren in den letzten beiden Jahren. Das ist rund dreimal so häufig wie der europäische Schnitt. Rund 30 Prozent der Schüler bleiben in den zehn Pflichtschuljahren mindestens einmal hängen.

Spaniens Antwort Eine Reform des Bildungsgesetzes soll Abhilfe schaffen. Wie die Regierung unter dem sozialistischen Premierminister Pedro Sánchez beschlossen hat, müssen Schülerinnen und Schüler ab diesem Schuljahr nur mehr in Ausnahmefällen das Jahr wiederholen. In der Grundschule beschränkt sich das Wiederholen auf das Ende der vierten Klasse. In der Mittel- und Oberstufe wird es so gut wie ganz abgeschafft. Selbst wer bei den Abschlussprüfungen in einem Fach durchfällt, erhält den Abschluss der Oberstufe, falls die Lehrerkonferenz an der Schule dies so entscheidet. Lehrkräfte kritisieren an der Entscheidung, dass es an Mitteln fehlt, um Kinder mit Lernproblemen entsprechend zu fördern. Laut OECD gibt Spanien 4,3 Prozent seines BIP für Bildung aus – das ist unter dem OECD-Schnitt. (taz)

Hat Sitzenbleiben auch was mit sozialer Ungleichheit zu tun? Knapp 29 Prozent der spanischen Kinder leben in Armut oder sind armutsgefährdet.

Spanien ist das Land, in dem Sitzenbleiben am stärksten mit der sozialen Herkunft verknüpft ist. Nehmen wir zwei Schüler mit den gleichen Ergebnissen beim Lesen und Rechnen: Das Kind aus einem sozial schwachen Haushalt wiederholt im Schnitt viermal so oft wie das aus einer Oberschichtfamilie mit exakt den gleichen Kenntnissen. Das hat die Pisa-Studie er­geben. Die Armen wiederholen sehr viel häufiger. Das führt zu einer Benachteiligung bestimmter Schüler. Wer weiterkommt, hat eine Zukunft vor sich. Wer sitzen bleibt, hat weniger Chancen auf späteren Erfolg.

In Spanien schicken die wohlhabenden Familien ihre Kinder gerne auf Privatschulen, der Staat subventioniert das massiv. Vermutlich wiederholen dort weniger Kinder als an den öffentlichen Schulen?

Klar, weil mehr Kinder aus einfachen Verhältnissen auf die öffentlichen Schulen gehen. Aber auf den subventionierten Privatschulen bleiben auch viele Schülerinnen und Schüler sitzen. Das ist ein kulturelles Phänomen. Die Schule entscheidet, dass bestimmte Schüler nicht weiterkommen.

Mit einem neuen Bildungsgesetz will die spanische Regierung die Wiederholungsrate verringern. Künftig sollen auch diejenigen weiterkommen, die in mehreren Fächern durchgefallen sind.

Ja, aber das genügt nicht. Das System als solches muss sich ändern. Wir brauchen eine andere Herangehensweise.

Was meinen Sie damit?

Wir brauchen mehr Förderunterricht, innerhalb und außerhalb des normalen Stundenplanes. Mehr Investitionen in der Unterstufe – dort wird der Grundstein für den späteren Bildungsweg gelegt. Kleinere Klassen, zwei Lehrkräfte pro Klasse, eine für den normalen Unterricht, eine für die schwächeren Schüler. Statt mit Sitzenbleiben zu bestrafen, müssen wir Kinder mit Lernproblemen fördern. Die Botschaft muss lauten: Du musst mehr bringen und ich helfe dir dabei. Nicht: Ich bestrafe dich, wenn du es nicht schaffst. Viele Schüler müssen wegen ganz wenig wiederholen. Sie werden aus ihrem Freundeskreis herausgerissen, ein Jahr zurückgestellt. Wirklich motivierend ist das nicht.

Nicht alle Lehrer sind mit dem neuen Gesetz einverstanden.

Ja, die meisten sehen das Sitzenbleiben als Problem, aber sie sehen auch, dass sie mit dem neuen Gesetz alleingelassen werden. Es fehlt an all dem, was ich aufgezählt habe. Das Argument der Lehrkräfte ist: Okay, ich kann die Schüler nicht dazu zwingen, das Schuljahr zu wiederholen, da das nicht wirklich sinnvoll ist, aber die Politik gibt mir nicht die Mittel an die Hand, um das Problem wirklich zu bewältigen.

Das ist vermutlich eine Frage des Geldes?

Dass knapp 30 Prozent der Kinder irgendwann wiederholen, kostet viel Geld, denn die Kinder gehen ein Jahr länger zur Schule. Spaniens Schulen sind von jeher schlecht finanziert, und es fehlt an Geld für Sondermaßnahmen für die Kinder, die das brauchen. Laut der NGO Save the Children kostet das 6,2 Prozent des Bildungshaushalts. Dieser Betrag könnte für Fördermaßnahmen sinnvoller eingesetzt werden.

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