Gedanken zur neuen taz FUTURZWEI: Überraschtsein als Politik

Warum sind die Deutschen immer überrumpelt, wenn wieder was passiert? Gedanken zur neuen taz FUTURZWEI, dem Magazin des taz-Verlags für Zukunft und Politik. Denn es geht ums Ganze.

Foto: Masterfile / taz FUTURZWEI

Von Peter Unfried

taz FUTURZWEI, 29.09.2022 | Während wir ständig davon sprechen, wie dramatisch die Welt sich verändere, sind wir doch weitgehend gefangen in der Welt dessen, was wir als „normal“ empfinden. Sagt Ivan Krastev, der sicher zu den führenden europäischen Zeitdiagnostikern gehört. Wenn etwas passiert, das nicht „normal“ ist, sind wir jedesmal aufs Neue überrascht wie Walter Kempowskis Mutter Margarethe, die in seiner berühmten Familienchronik „Tadellöser und Wolff“ regelmäßig die legendären Worte spricht: „Nein, wie isses nun bloß möglich?“

So oder so ähnlich machen wir Deutsche das seit 9/11. Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlinge kommen, Virus kommt, Angriffskrieg mitten in Europa: So was aber auch! Als der russische Diktator Putin genau das machte, was er angekündigt hatte, waren deutsche Politik und Gesellschaft einerseits ehrlich überrascht, aber andererseits haben wir es ihm auch deshalb nicht geglaubt, weil es uns nicht in den Kram gepasst hat.

Die Politik stiehlt sich aus der Verantwortung

„Das hätten wir nicht gedacht!“ heißt dementsprechend die neueste Ausgabe von taz FUTURZWEI, dem Magazin des taz-Verlags für Zukunft und Politik. „Überraschtsein als Politik“ lautet das Titelthema, über das der Politologe Krastev, der Militärexperte Sönke Neitzel, die Schriftstellerin Sibylle Berg, der Soziologe Jan Söffner und der Satiriker Florian Schroeder nachdenken.

„Überraschtsein als Politik“ bedeutet, dass sich nicht nur die Gesellschaft gern die ­Augen zuhält, solange es geht, sondern das auch die Strategie der Politik und der Bundesregierung ist. Warum machen Politiker das, obwohl sie doch die Verantwortung haben für die Zukunft einer nationalstaatlichen Gesellschaft? Die harte Antwort lautet: Es ist die Strategie, sich aus dieser Verantwortung zu stehlen. Wer überrascht wird, konnte auch keine Politik machen, um etwas zu verhindern oder dafür gewappnet zu sein. Das betrifft etwa die Energieabhängigkeit von Russland, die die dauerregierenden Union und SPD eingegangen sind. Oder die Schrottisierung der Bundeswehr. Militärhistoriker Neitzel erzählt, was ihm aus dem politischen Raum gesagt wird, wenn er vorausschauende Politik einfordert. „Politik bereitet sich nicht auf das Ungeschehene vor, sondern nur auf das Geschehene.“ Die Befunde aus der Wissenschaftsproduktion seien nicht auf die politische Handlungsebene übertragbar oder kämen erst gar nicht dort an.

Im Gesellschafts- und Kultur­teil der neuen Ausgabe beschäftigt sich Heike-Melba Fendel aus ihrer Erfahrung mit Ukraine-Flüchtlingen heraus mit der Frage, warum wir das Helfen vermeiden, überhöhen oder verkitschen, aber nicht richtig hinkriegen. Wolf Lotter entwickelt die vergessene Emanzipation, das ist für ihn die des selbstbestimmten Arbeitens. Aron Boks klärt vor Ort, wie ein Grüner gegen alle Vorurteile Oberbürgermeister in Mecklenburg-Vorpommern werden konnte, Judith Holofernes erzählt, warum ihr mit Anfang vierzig ihr Leben als Frau, Mutter und Popstar zu blöd wurde, und Luisa Neubauer beschreibt, was der Klimabewegung fehlt.

Nun fragen Leute immer wieder, ob und wie sich taz FUTUR­ZWEI von der taz unterscheide.

Konstruktiver Ansatz

Die Frage halte ich nicht für zielführend. taz FUTURZWEI erscheint nur viermal im Jahr, ist im Marketingsprech eine Markenerweiterung des taz-Verlags und verfolgt einen radikal konstruktiven Ansatz: Wir wollen das diskursive Zentrum einer gelungenen Zukunft sein.

Die Gegenwartsstimmung könnte man, links wie rechts, zusammenfassen mit dem Satz: Das geht doch alles gar nicht. Wir kritisieren selbstverständlich auch, aber unsere Grundfrage lautet: Wie geht etwas und mit wem? Dazu wollen wir kluge, inspirierende, irritierende, riskante, auch verstörende Perspektiven haben, deshalb schreiben und sprechen Luisa Neubauer, Maja Göpel, Hedwig Richter, Sibylle Berg, Samira El Ouassil, Aladin El-Mafaalani, aber auch Florian Schroeder, Peter Sloterdijk, Boris Palmer oder Ulf Poschardt. Wir schließen nicht aus, um Reinheit zu schaffen, damit die liebe Seele Ruhe hat. Wir schließen ein, um Diskurs und Streit zu organisieren, aber auch um Anschlüsse zu finden, Allianzen zu schließen, und vor allem, um darüber nachzudenken, worum es jetzt wirklich geht. Interessant: Unsere besten Hefte sind durch den Dissens entstanden, den Herausgeber Harald Welzer und ich in der Frage der militärischen Unterstützung der Ukraine haben. Wir haben unseren Streit zweimal publizistisch produktiv bekommen, das ist eine ermutigende und auch schöne Erfahrung!

Uns geht es ums Ganze, dafür muss man Leute, Akteure, Positio­nen, Kreativität neu und breit zusammenbringen – und das tun wir. Seien Sie dabei.

Peter Unfried ist Chefreporter der taz und Chefredakteur von taz FUTURZWEI: Das Magazin für Zukunft und Politik des taz-Verlags in redaktioneller Kooperation mit der Stiftung FUTURZWEI. Herausgeber ist Harald Welzer. Erscheint viermal im Jahr und kostet im Abo 34 Euro. Weitere Informationen zu taz FUTURZWEI gibt es hier.

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