Futuristische Hörspiele von RB und NDR: Klänge der Düsterwelten

Dystopien sind gerade hoch im Kurs. Radio Bremen und der NDR haben mit „Cryptos“ und „Miami Punk“ zwei neue Romane hörbar gemacht.

Eine Hütte im Wald

Auch in der Zukunft wird es Waldhütten geben. Düstere Dinge können sich in ihnen abspielen Foto: Stathis Floros / wikimedia / (CC BY-SA 4.0)

Der finsterste Ort der Zukunft ist eine Waldhütte bei Salzgitter. Dort verbringt Diego, der fast vergessene Jugendfreund, seine Zeit zwischen den Auslandseinsätzen, bei denen er für die Bundeswehr Drohnenangriffe steuert. Und hierhin hat er seine ehemaligen Klassenkameraden Alba, Belit und Cobra zu einem Pen-&-Paper eingeladen. Das sind Rollenspiele, zu denen die Teilnehmenden Charakterskizzen mitbringen, mit eigenen Namen, in diesem Fall Juanita, Javier und Lars.

Diese Figuren bewegen sich dann, unterstützt durch einen Zufallsgenerator (hier ein 20er-Würfel), durch ein Setting mit diversen narrativen Strängen. In die hat nur der Gamemaster Einblick, der Gott der Diegesis, vulgo der Erzählung. Also hier: Diego, der Wasseraufbereitungstabletten und unfassbare Mengen Einpersonen-Mahlzeiten in seiner Hütte hortet.

Dem ist es extrem wichtig, dass seine Schul­ka­me­ra­d*in­nen bis zum Ende ausharren, also viereinhalb Stunden, neun Podcast- oder drei Sendungsfolgen im NDR. Die Partie dauert eben so lange, wie sie dauert. Widrigenfalls wird er echt ungemütlich.

Im NDR-Hörspiel „Miami Punk – the complete DLC“ von Juan S. Guse ist das Setting des Pen-&-Paper-Spiels genau jenes Miami, das Juan S. Guse für seinen Roman „Miami Punk“ entworfen hatte. Dessen vielleicht durch die Klimakatastrophe verursachten Spezifika – der Atlantik hat sich von der Küste Floridas zurückgezogen und eine Wüste freigegeben, Alligatoren plagen die Bewohner der Stadt und ein Hochhaus-Komplex schwebt, von der Erde losgerissen, mit allen Insassen davon – sind für Diego, Cobra, Belit und Alba nicht weniger real als für ihre analogen Avatare.

Vertrackte Beziehung zum Roman

Sie gehören zu ihrer Wirklichkeit, so wie die unwirklichen Anschläge per Passagierflugzeug auf die Twintower von 2001. Es sind Katastrophen, die, ohne akut erinnert zu werden, als hintergrundrauschendes Weltwissen den gewöhnlich grauen Alltag mitgestalten. Vergessensmaterial.

Dieses Hörspiel ist völlig eigenständig, unterhält aber eine vertrackte intertextuelle Beziehung zum 2019 veröffentlichten Roman: Auf dessen lineare Stränge wird angespielt. Nie aber werden sie fortgesetzt, geschweige denn akustisch performt oder gar erzählt.

Stattdessen lässt Guse seinen Gamemaster die Figuren wie Sonden an mehreren Punkten in die versehrte Landschaft Floridas hineinsenken, für die sein so fantastisches wie abstruses Buch vom Feuilleton zurecht gefeiert worden war: Sie bekämpfen als Mitglieder eines Ringervereins allein mit Wurftechnik und Muskelkraft die in der ganzen Stadt auftauchenden Krokos, im Dienste der früheren Küsten-, heute Wüstenwache gehen sie auf Patrouille, sie erkunden als dessen Bewohner die spukhaften Tiefgeschosse des schwebenden, gigantischen Rowdy Yates-Wohnkomplexes.

Guse bindet diese Szenarien aber dank des einzigen tatsächlichen Spielorts, eben der abgelegenen, klaustrophobischen Prepper-Hütte, die „entschieden Serien-Killer-Vibes“ hat, wie es irgendwann heißt, viel stärker an die Gegenwart der Hörenden zurück: Ob der Abend eskaliert, wie sich der traumatisierte Spielleiter entwickeln wird, das ist die wahre Handlung.

Sie ist nicht anspruchsvoller als die eines luschigen Vorabendkrimis und ermöglicht, auf ausgetüftelte futuristische Geräusche fast komplett zu verzichten. Bierzischen und Chipsknistern reichen, zwischendurch wird vorm Haus eine gequarzt, und die Glut frisst sich hörbar durch den Tabak.

Umso spektakulärer wirken die cool bis unterkühlt von Regisseurin Iris Drögekamp eingesetzten Klanglandschaftsskizzen, die Nikolai von Sallwitz aus Ton- und Laut-Fragmenten komponiert hat. Aus ihnen scheint es nach elektrischen Funken zu riechen, die auf organische Verwesung treffen. Alles also sehr geschmackvoll in dieser düsteren Welt.

Dystopien sind derzeit entschieden en vogue. Die Gründe dafür liegen, in einer Epoche, in der Verzweiflung ein Ausdruck von Realismus ist, auf der Hand. Die Unterschiede der gestalterischen Ambition auch: Mit dem Raffinement von Guses Balanceakt kann „Cryptos“ von Radio Bremen nicht mithalten. Will die Hörspielfassung von Ursula Poznanskis gleichnamigem Bestseller wohl auch nicht.

Wie die Vorlage zeigt auch sie kein vertieftes Interesse an narrativen Problemen. So wird zunächst wie weiland bei Raumschiff Enterprise das Grundsätzliche geklärt: „Die Erde – in nicht zu ferner Zukunft“, raunt eine metallisch-ausgesteuerte Frauenstimme mit Hall und Atmo-Plinkerplimmplimm. „Das Klima ist gekippt, der Lebensraum knapp“ etcpp. Und darunter, leiser, leicht verzögert, wiederholt eine Männerstimme denselben Text.

Miami Punk – The complete DLC, Hörspiel von Juan S. Guse, Ursendung: 1: Die olivgrünen Makrelen, 21. 9. 20 Uhr. 2: Der Marsch der Toten, 28. 9. 20 Uhr, 3: Das ist nicht die Wahrheit, das ist Sand, 5. 10. 20 Uhr, NDR Kultur, vollständig in der ARD-Audiothek.

Cryptos, Hörspiel nach Ursula Poznanski, Radio Bremen, vollständig in der ARD-Audiothek ab 10. 10.

Dazu passt die plump-didaktische Veröffentlichungsstrategie: Während der NDR schon drei Wochen vor der Ursendung den gesamten Content in der App zum Download bereitgestellt hat, legt man in Bremen Wert auf Disziplin. Die auf zwei maximal azyklische Termine verteilte Ursendung – Sonntag, 18 Uhr, wenn sonst das niederdeutsche Hörspiel kommt, und Mittwoch 21.05 Uhr – war am 11. und 14. 9. nur für ganz besonders treue Radio Bremen 2-Hörer*innen vollständig zu erhaschen. Die sechs 20-minütigen Podcastschnipsel aber werden schön eins nach dem anderen freigeschaltet, sonntagnachts, damit auch ja keiner binge-hört.

Das Werk bleibt viel eher im Fiktionalen eingefriedet als Guses verunsichernd ins Jetzt und als Hörspiel direkt ins Hirn wuchernde Beinahewirklichkeit. Dafür erlaubt sich „Cryptos“ einen tollen erzählerischen Sog zu entfalten, den der hannoversche Autor gerade vermeidet.

Bei Poznanski lässt sich die Menschheit, ähnlich wie in E.M. Fosters „Machine“ in Kapseln sediert, angesichts des Untergangs der Erde durch digitale Kunstwelten wie durch Träume gleiten. Die bietet ein monopolistisches Cyber-Unternehmen – Soft- und Hardware – an. Was hier geschieht, erfüllt alle Anforderungen an einen guten Fantasy-Thriller, künstlerisch unspektakulär, aber gekonnt straight gestaltet.

Ein großartig ekliges Geräusch

Erzählt wird von der Welten-Designerin Jana, in deren artifiziellen Digital-Habitaten gegen ihren Willen und zum Entsetzen des Managements eine ins System eingedrungene unkenntliche Figur ganz analog mordet, zum Beispiel indem sie andere Personen zerfließen lässt: Ein großartig ekliges Geräusch macht das.

Janas Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, fesselt, weil in Janine Lüttmanns Regie die Personen so plastisch wirken. Wo Guse bewusst nur die Charaktermasken A bis D miteinander in Konstellation bringt, ist hier das Anliegen, eine Protagonistin zu gestalten, mit der sich mitfühlen lässt – aller Fremdheit und zeitlicher Ferne zum Trotz.

Und Elisa Schlotts Stimme zaubert diese Jana mal dösig verpeilt, mal neugierig, mal panisch und immer menschlich in den Raum. Das hat etwas Schönes, Tröstliches – wie ein Versprechen darauf, dass es auch in einer untergegangenen Welt noch ein Happy End geben wird, das ein hoffnungsvoller Anfang sein kann. Und nicht nur, wie bei Guse, das Ende.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.