berliner szenen
: Der Zeichner in der S-Bahn

Es ist Sonntagnachmittag, ich fahre zum Ostkreuz und setze mich in der S-Bahn zu einem Jungen, der mir gegenüber mit einem roten Stift in einen schwarzen Kalender schreibt. Neben ihm steht ein Rucksack, und ich frage mich, ob er von seinem Vater zu seiner Mutter fährt oder andersherum. Er ist vielleicht neun Jahre alt. Seine Haare sind lang und blond, und ab und an sieht er hoch und blickt mich mit ernsten braunen Augen an.

Ich überlege, was er schreibt. Tagebuch? Oder sind es Gedichte? Er wirkt nachdenklich und ernsthaft, und ich würde ihn gern fragen, aber ich traue mich nicht.

In den Vierersitz neben uns setzen sich zwei Männer. Der eine sieht schlimm aus. Sein Gesicht ist geschwollen und von Prellungen und Blutergüssen übersät. Der andere trägt eine Kappe und sieht mitgenommen und betrunken aus. Beide Männer sind laut. Sie unterhalten sich auf Polnisch, trinken Rotwein aus der Flasche und reichen sich diese hin und her. Der Junge schaut manchmal hinüber.

Dann beginnt er zu zeichnen. Mit dem roten Stift malt er die beiden Männer mit der Flasche. Er lässt nichts aus. Nicht die blauen Flecken im Gesicht, die geschwollenen Lippen, nicht die schief sitzende Kappe des anderen.

Irgendwann sieht er mich an und blickt dann zur Orientierung aus dem Fenster. Die nächste Station ist Ostkreuz. Der Junge reißt das Blatt aus dem Kalender, dann verstaut er den Kalender im Rucksack, schultert ihn und tritt an die beiden Männer heran. Er hält ihnen das Blatt hin.

Die beiden Männer sehen auf das Blatt, der eine greift danach. Sie sind still und erstaunt. Dann sagt der Mann etwas auf Polnisch. Ich verstehe nur Dziekuje. Der Junge geht zur Tür. Wir steigen aus.

Draußen rennt der Junge wie ein Wiesel zwischen den Menschen die Treppe herauf, und ich bin irgendwie traurig. Isobel Markus