Offensive läuft, Inspektion wartet

IAEA-Atominspektionsteam erreicht Front vor dem AKW Saporischschja. Weiterfahrt gestaltet sich schwierig

Aus Kiew Bernhard Clasen

Kirill Stremousow ist guter Laune. Demonstrativ zeigt sich der von Russland eingesetzte Verwaltungschef von Cherson im Süden der Ukrai­ne bei einer Videoaufnahme an einem Fenster. Hinter ihm sieht man den blauen Himmel über der von Russland besetzten Stadt Cherson. Das Bild passt zu Stremousows Behauptung, die am Montag gestartete ukrainische Gegenoffensive zur Rückeroberung des Gebiets Cherson sei nichts als ein von den Ukrainern in die Welt gesetzter Fake. „Alles ist in Ordnung, es gibt keine Probleme, niemand greift an. Der Himmel ist friedlich. Gott ist mit uns“, sagt er.

Man könnte die Geschichte fast glauben, hätten nicht ukrainische Jour­na­lis­t:in­nen die Aufnahmen überprüft und festgestellt, dass das Video gar nicht in Cherson aufgenommen worden ist, sondern im russischen Woronesch. Mit anderen Worten: Der Separatistenchef hat sich schon längst aus dem Staub gemacht.

Tatsächlich wird die Luft für die russischen Besatzer in Cherson immer dünner. Die ukrai­nische Armee meldet den Fortgang der Großoffensive. Man habe alle Brücken über den Dniepr in der Region zerstört. Genaue Angaben über Eroberungen werden nicht gemacht. Am Dienstagabend forderte der stellvertretende Vorsitzende des ukrainischen Regionalrats von Cherson, Yuriy Sobolevsky, die Bewohner der Region auf, sich mit Lebensmitteln und Wasser einzudecken, die Erste-Hilfe-Kästen zu überprüfen und sich von Fenstern fernzuhalten. Ein Bewohner der Stadt berichtet gegenüber vesti.ua von leeren Geschäften und Märkten.

Atominspekteure unterwegs Richtung AKW Saporischschja

Unterdessen ist die Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) am Mittwoch in der Stadt Saporischschja eingetroffen. Von dieser Stadt im ukrainisch kontrollierten Gebiet sind es noch 110 Kilometer bis nach Enerhodar, dem Standort des Atomkraftwerks Saporischschja im russisch besetzten Gebiet, wo die IAEA eine Inspektion durchführen will. Der Weg führt aber über die Kriegsfront.

IAEA-Chef Rafael Grossi und seinen 13 Inspektoren waren am Dienstag in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelandet und reisten am Mittwochmorgen in einem Autokonvoi aus rund 20 Fahrzeugen weiter. In Kiew hatten sie am Dienstag Präsident Wolodimir Selenski getroffen, der eine „unverzügliche Entmilitarisierung“ des Atomkraftwerks als Ziel nannte „und einen Übergang des AKWs unter die Kontrolle des ukrainischen Staates“.

Wann das IAEA-Team zum AKW gelangt, wie lange es bleiben und was es dort machen darf, blieb zunächst unklar. Am Nachmittag meldete der russische Dienst des BBC-Rundfunks, das Team habe die Warteschlange vor dem russischen Kontrollposten an der Front erreicht und werde dort an der Weiterfahrt gehindert, da es ja aus Russland hätte anreisen können. Man rechne mit einer Ankunft am Donnerstagmorgen.

Die Inspektoren wollen mehrere Tage bleiben und auch mit der ukrainischen Belegschaft sprechen. Die IAEA hoffe, eine „dauerhafte Inspektion“ etablieren zu können, sagte Grossi. Der Leiter der russischen Gebietsverwaltung in der Stadt Melitopol, Jewgeni Balizki, sagte hingegen am Dienstag, das Team solle nach der Ankunft am gleichen Tag vor Einbruch der Dunkelheit wieder abreisen.

Zugleich haben nach Angaben des Chefs der Militäradministration von Nikopol, Yevhen Yevtuschenko, am Mittwoch russische Truppen in Enerhodar das Gebäude der Stadtverwaltung beschossen. Auf Bildern, die der geflohene Bürgermeister Dmytro Orlow verbreitete, waren ein Loch in der Fassade des Rathauses und Trümmer zu sehen. Die Russen, so zitiert vesti.ua Yevtushenko, wollten vorgaukeln, die Ukrainer würden Enerhodar beschießen.

(mit rtr, afp, dpa)