Regierung beschließt Bürgergeld: Das geht auch menschlicher

Das neue Bürgergeld der Ampel-Koalition bringt ein paar Verbesserungen. Ein besseres Grundsicherungssystem – wie versprochen – schafft es allerdings nicht.

Toastbrot mit traurigem Gesicht

Bürgergeld: wenig Grund zur Freude Foto: Stefka Pavlova/getty

Das Arbeitslosengeld II soll am 1. Januar 2023 vom Bürgergeld abgelöst werden, die Ampel-Regierung plant eine umfassende Reform der Grundsicherung für Arbeitslose. Arbeitsminister Hubertus Heil behauptet in Interviews gern, dass Hartz IV damit „überwunden“ werde.

Zwar beinhaltet das Regierungskonzept durchaus positive Veränderungen, etwa im Verhältnis zum Jobcenter, bei den Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung, beim Vermittlungsvorrang sowie bei den Sanktionen für die bisherigen Hartz-IV-Bezieher/innen. In zentralen Punkten – etwa die zu geringe Anhebung des Regelbedarfs – bleibt eine substanzielle Korrektur des Grundsicherungssystems aber aus. Um Hartz IV wirklich zu überwinden, wären weitere Schritte nötig:

Immer mehr Erwerbslose erhalten nie Arbeitslosengeld I, sondern gleich Hartz IV. Deshalb sollten die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes I und die Frist, in der man Leistungsansprüche erwerben kann, über die geltenden 30 Monate hinaus verlängert werden. Die Anwartschaftszeit dagegen, während der man Beiträge in die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben muss, könnte von derzeit zwölf (unter bestimmten Voraussetzungen sechs Monaten) verkürzt werden, um den sofortigen Fall in die Grundsicherung zu verhindern.

Die einschneidendste Sozialreform der Bundesrepublik wird als „Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ verharmlost. Dabei entfiel mit der Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard von Erwerbslosen noch halbwegs sichernde Lohnersatzleistung, an deren Stelle mit dem Arbeitslosengeld II eine höchstens noch das Existenzminimum sichernde Fürsorgeleistung trat, gedacht als bloße Lohnergänzungsleistung. Bezieher/innen von Arbeitslosenhilfe erhielten 57 Prozent beziehungsweise 53 Prozent (ohne Kind) ihres letzten Nettoentgelts. Dass sich die Zahl der von Transferleistungen abhängigen Kinder nach Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 fast verdoppelte, war in erster Linie auf die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und den Bruch mit dem Lebensstandardsicherungsprinzip zurückzuführen.

Will man keine Lohnersatzleistung wie die Arbeitslosenhilfe einführen, kann man den Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen auch durch ein im Extremfall bis zur Rente gezahltes Arbeitslosengeld sichern. Unbefristet anspruchsberechtigt müsste dann sein, wer eine bestimmte Mindestversicherungsdauer aufweist. Mit der Einführung von Hartz IV waren pauschale Regelsätze verbunden, die inzwischen Regelbedarfe heißen und auch beim Bürgergeld mit 502 Euro im Monat für Alleinstehende viel zu niedrig sind. Besonders kinderreiche Familien leiden darunter, dass die wiederkehrenden einmaligen Leistungen, etwa für die Reparatur einer Waschmaschine, weggefallen sind.

Einerseits müssten also die Regelbedarfe deutlicher erhöht werden, als das (erst) zum Jahreswechsel geschieht; andererseits sollten jene Beihilfen wieder eingeführt werden, die bedürftigen Familien helfen. Ein neues, partnerschaftliches, solidarischeres und menschlicheres Sozialstaatsmodell, wie es die Ampel-Koalition verspricht, ist nicht beinahe zum Nulltarif zu haben.

Der Staat darf Hungerlöhne nicht länger per Transferleistungen subventionieren

Einen Berufs- und Qualifikationsschutz gibt es beim Bürgergeld ebenso wenig wie bei Hartz IV. Das heißt: Unabhängig davon, welche Ausbildung oder welches Studium die Leistungsbezieher/innen abgeschlossen haben und welchen Beruf sie vielleicht jahrzehntelang ausgeübt haben, müssen sie jedes Jobangebot akzeptieren. Damit eine Sekretärin nicht im Getränkemarkt und ein Soziologe nicht als Pförtner arbeiten muss, um ihren Leistungsanspruch zu erhalten, muss der Berufs- und Qualifikationsschutz im Sozialgesetzbuch verankert werden.

Erhalten bleiben die Zumutbarkeitsregeln bei der Arbeitsaufnahme. Leistungsbezieher/innen müssen jeden Job annehmen, auch wenn er weder nach Tarif noch ortsüblich entlohnt wird. So hat Hartz IV einen breiten Niedriglohnsektor geschaffen – Haupteinfallstor für Erwerbsarmut, Familienarmut und spätere Altersarmut. Daher müssen die Zumutbarkeitsregelungen entschärft werden. Der Staat darf Hungerlöhne nicht länger legitimieren, mittels Transferleistungen subventionieren und die entstehenden Folgekosten an die Allgemeinheit abgeben.

Bei einer Pflichtverletzung, die darin bestehen kann, dass man einen Job ablehnt, ein Bewerbungstraining nicht antritt oder eine Weiterbildung abbricht, soll der Regelbedarf nach Ablauf der „Vertrauenszeit“ von einem halben Jahr um 30 Prozent gekürzt werden. Damit fällt das Bürgergeld hinter das geltende Sanktionsmoratorium zurück, welches nur einen 10-prozentigen Abzug von der Regelleistung bei Meldeversäumnissen zulässt.

Sanktionen sind inhuman und entbehrlich, weil sich die meisten Personen der Arbeit nicht entziehen – die meisten wollen sich nützlich machen und/oder der Gesellschaft, die ihre (Aus-)Bildung ermöglicht hat, etwas zurückgeben. Ein Verstoß hat also häufig einen anderen Grund, dem es nachzugehen gilt.

Aus dem Fürsorgerecht stammt das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft, durch das selbst Menschen, die weder mit Leistungsbedürftigen verwandt noch ihnen gegenüber unterhaltspflichtig sind, zur Kostenübernahme angehalten werden, um die Jobcenter zu entlasten. Eine erweiterte Sippenhaft darf es beim Bürgergeld nicht geben, weshalb die Bedarfsgemeinschaft abzuschaffen ist. Auch müssen Volljährige einen eigenen Haushalt gründen können, ohne Erlaubnis des Jobcenters.

Arbeitslosengeld-II-Bezieher(inne)n wird das Elterngeld von der Transferleistung abgezogen; Beiträge in die Rentenversicherung werden für sie nicht eingezahlt. Auch diese Verschlechterungen müssen SPD, Bündnisgrüne und FDP rückabwickeln, wenn es ihnen tatsächlich darum geht, Hartz IV zu überwinden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist 71 Jahre alt und Armutsforscher. Bis 2016 lehrte er an der Universität Köln. Im Mai 2022 erschien sein Buch „Die polarisierende Pandemie“.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.