Michel Friedman über sein Buch: „Mich interessiert das Leben“

Michel Friedman hat mit „Fremd“ ein berührendes Buch vorgelegt. Es erzählt von tiefster Trauer, Verletzungen und einem Gefühl des Fremdseins.

Michel Friedman

Trotz allem Optimist: Michel Friedman Foto: Gaby Gerster

taz am wochenende: Herr Friedman, ihre intellektuelle und politische Vita beeindruckt durch eine enorme Vielfalt an Themen und Zugängen. Woher kommt Ihre Neugier?

Michel Friedman: Mich interessiert das Warum – das Warum der Existenz, des Lebens, des Seins. Mich interessiert das Leben. Und mich interessieren Menschen. Deswegen habe ich diese Neugier, den Drang, aus verschiedenen Perspektiven heraus zu verstehen. Mein ­Lebenszeichen ist das Fragezeichen. Und so versuche ich mich an vielen Aufgaben, die mich herausfordern, wo ich lernen muss. Zu lernen bedeutet für mich etwas außerordentlich Positives.

In „Fremd“ geht es zentral auch um Ihre Beziehung zu Ihren Eltern. Haben Ihr Vater und Ihre Mutter Ihnen diesen intellektuellen Durst mitgegeben?

Michel Friedman: „Fremd“.

Berlin Verlag, Berlin 2022,

176 Seiten, 20 Euro

Meine Eltern blieben ohne Abitur und Studium, weil Hitler sie an ihren Lebensplanungen gehindert hat. Mich haben sie dann auf Händen getragen, zum Wissen, zum Lernen. Mein Vater sagte immer wieder: Sie können dir alles nehmen, nur nicht das, was du im Kopf hast. Grundsätzlich glaube ich, dass Wissen und Bildung, Neugier auf die Welt, die Grundlage für ein gutes Leben, für eine menschliche Gesellschaft sind. Der größte Skandal auch der deutschen Gesellschaft ist die unzureichende Verwirklichung von Bildungsgerechtigkeit. Das betrifft besonders Migranten und ihre Nachkommen. Ich selbst kam nach Deutschland ja auch als Migrant. Als Kind, mit einem UN-Flüchtlingspass. Ohne Deutschkenntnisse bin ich dann aufs Frankfurter Goethe-Gymnasium. Auch die Unterstützung und Motivation durch einige Lehrerinnen und Lehrer hat mich mit zu dem gemacht, der ich heute bin. Bildung darf jedoch kein Zufall sein!

geb. 1956 in Paris, stammt aus einer polnisch-jüdischen Familie aus Krakau. Seine Eltern und seine Großmutter überlebten die Shoah dank Oskar Schindler. Friedman ist Rechtsanwalt, Philosoph, Publizist und Moderator. Von 2000 bis 2003 war er stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden. Im Zuge der „Friedman-Affäre“ trat er von allen öffentlichen Ämtern zurück. Seit 2016 ist er Honorarprofessor und moderiert unter anderem die Sendung „Auf ein Wort“ bei der Deutschen Welle und „Friedman im Gespräch“ im Berliner Ensemble. Er engagiert sich für die Integration Geflüchteter.

Nach dem Abitur haben Sie zunächst Medizin, dann Jura studiert. Was hat Sie zu diesen beiden Fächern gebracht?

Mein Vater wollte, dass ich Medizin studiere. Das hing mit seiner Lebenserkenntnis zusammen: Wenn wir eines Tages flüchten müssten, könnte ich als Arzt überall wieder anfangen. Selbst der Nazi brauchte im KZ, wenn er Zahnschmerzen hatte, einen Arzt. Mit 18 Jahren war mein Traum allerdings, an der Columbia Philosophie zu studieren – und später Chefredakteur der New York Times zu werden (lacht). Das Medizinstudium brach ich nach einer Weile ab. Die Kompromisslösung war dann Jura, was mir, dessen Eltern nicht wohlhabend waren, ökonomisch mehr Sicherheit garantierte. Mit Mitte 40 habe ich mir dann einen Traum erfüllt: ein Philosophiestudium inklusive Promotion.

Was fasziniert Sie an der Philosophie?

Die Philosophie lebt vom Fragen: Warum? Wozu? Wo und wie? Sie lebt von der Logik. Die Philosophie bemüht sich, ein gutes Leben für den Menschen zu denken und zu finden. Auch in ihrer Interdisziplinarität bietet sie unendlich viele Interpretationen und Konzepte an – und versucht den Streit darüber zu kultivieren, die Auseinandersetzung der Argumente und die Erfahrung, dass man stets in einem inneren und äußeren Dialog stehen muss.

Gestaltete sich der Schreibprozess von „Fremd“ auch als ein solcher Dialog?

Dieser Text ist das Ergebnis eines ganzen Lebens – von Gefühlen wie auch von Re­fle­xio­nen. Es ist ein persönliches Buch. Und ein sehr politisches. Das im Buch immer wieder genannte Kind ist autobiografisch. Es steht jedoch gleichzeitig für viele mit ähnlichen Erfahrungen: Diskriminierung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft, das „Anderssein“. Zudem die Verletzungen und Wunden der Eltern. In meinem Fall durch den Holocaust, in anderen Familien ist es die Erfahrung der Flucht und die plötzliche Veränderung des Status der Eltern.

Sehen Sie weitere politische Dimensionen in „Fremd“?

Den Gedanken, dass wir als Fremde auf diese Welt kommen und in dieser Welt fremd bleiben, dass die meisten Bemühungen, Teil einer Gruppe zu sein – eines Vereins, einer Partei; selbst die Bildung einer Familie – aber darauf abzielen, dieses Fremdsein loszuwerden. Wie viel Ich musst du aufgeben, um in ein Wir hineinzukommen? Ist die Eintrittskarte nicht häufig viel zu teuer? Ich glaube, auch Menschen ohne Rassismus­erfahrungen haben in ihren Leben kennengelernt, dass diese Bereitschaft zum Opportunismus, die Bereitschaft zum Mitmachen, uns nicht ins Glück, sondern sehr oft ins Unglück treibt. Auch das macht mein Buch zu einem politischen Text. Das gesellschaftspolitische Wir übt viel Macht aus.

Sie berichten sehr offen und direkt über Erfahrungen von Schwäche und mit Mobbing, über Selbstverletzungen, Selbstmordwerkzeug und über Therapien. Wie gestaltete sich für Sie der Schreibprozess?

Zunächst wollte ich persönliche Reflexionen mit Sachbuch­elementen verbinden. Das funk­tionierte allerdings überhaupt nicht. Die lyrische Form war ursprünglich nicht geplant. Mit der Zeit aber wurde der Text immer nackter, knochiger. Nach der Fertigstellung war ich erschrocken und erschöpft. Für mich ist das Buch ein Spiegel. Ich schaue mich an. Ich muss zugeben: Ich habe große Angst vor der Veröffentlichung.

Angst – inwiefern?

Ich habe große Angst vor der Kritik und vor dem Umgang mit dem Text. Vor allem hatte ich stets die Angst, dass der Text nie atmen kann, weil alle denken: Der Autor ist doch Michel Friedman. Deswegen hatte ich eine Zeit lang über eine Veröffentlichung unter Pseudonym nachgedacht. Oder ob ich es überhaupt publizieren sollte. Irgendwann wurde mir aber klar: Wenn ich aus Angst dieses Buch nicht publizierte, dann würde ich meine Stimme verlieren. Jetzt ist das Buch da.

Herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung!

Danke – aber ich habe immer noch Angst. Bin immer noch aufgeregt und aufgewühlt. Daran hat sich wirklich nichts geändert.

Wird sich das irgendwann einmal ändern?

Bei mir wird sich das nie ändern.

In Ihrem Buch schildern Sie nicht nur Ihre Einwanderung nach Deutschland aus Paris, wo Sie und Ihre Familie nach der Shoah als staatenlose Flüchtlinge aus Polen lebten. Es gibt auch eine Passage zur, wie Sie es formulieren, „Blitzentscheidung“, im letzten Moment doch nicht nach den USA zu gehen. Was hat Sie damals zum Bleiben veranlasst?

Meine Mutter fragte: Willst du uns umbringen? Meine Aufgabe war, für das Glück meiner Eltern zu sorgen; dafür, dass sie leben wollten, einen Sinn empfanden. Die Mahnung meiner Mutter, das nicht zu vergessen, weckte damit in mir eine maximale Angst. Ich war damals nicht in der Lage, mich ihnen entgegenzustellen und meine Option New York einzulösen. Unsere Verstrickung ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die meisten Holocaustüberlebenden nur über eine neue Familienbildung die Legitimierung herleiten konnten, dass sie – und nicht ihre Brüder und Schwestern – überlebt hatten.

Wie blicken Sie in die politische Zukunft?

Meine Lebensangst ist gekoppelt an ein nie gewachsenes Urvertrauen: Ich bin auf dem Friedhof aufgewachsen, bei uns wurde geweint, bei uns wurde der Tod gesehen – das vorangestellt. Vor der politischen Zukunft habe ich keine Angst, erst recht keine Furcht. Es gibt Probleme. Wir können sie lösen. Wenn wir wollen. Es hat ja nie gestimmt, dass man nicht die Welt ändern kann. Ich bin Kind von Eltern, die von Oskar Schindler gerettet wurden. Ein Mensch hat damals für Tausende Menschen Tausende Welten verändert und damit auch für mich. Das motiviert mich. Bei allen Rückschlägen, bei allen Schwächen und bei aller Heuchelei und Doppelmoral: Ich glaube daran, dass wir in der Lage sind, die meisten Probleme, auch strukturelle, zu bewältigen; dass wir es – im Konjunktiv – könnten. Meine Vision der Welt geht vom Einzelnen aus, der sich mit anderen Einzelnen zusammentut unter der Perspektive: Wir haben etwas vor, etwas Anderes. Und das in der Demokratie.

Das Einen-Anfang-Machen, das Zusammenschließen der Einzelnen erinnert mich an Hannah Arendts Konzeption des Politischen als Freiheit …

… und Hannah Arendt hat recht! Ich bin aber auch großer Anhänger von Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir. Ihr Buch über das Sterben [„Alle Menschen sind sterblich“, 1946; Anm. d. Red.] halte ich für wegweisend. Obwohl ich an den Menschen und seine Möglichkeiten glaube, weiß ich: Wir sind Natur, und wir überschätzen uns, sind narzisstisch in unserem Spiegelbild. Unser Bewusstsein kann Berge versetzen, die Berge aber auch zur Gefahr werden lassen. Ich verstehe die Traurigkeit, die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Sie stecken auch in mir, sie umfassen einen großen Teil meiner Biografie. Zu einem größeren Teil, der nur minimal größer ist, glaube ich jedoch an das Konstruktive.

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