Linken-Chef Schirdewan zur Energiekrise: „Axt an den sozialen Frieden“

Der Linken-Vorsitzende Martin Schirdewan macht der Ampelkoalition schwere Vorwürfe. Gegen die „soziale Kälte“ ruft er zu Protesten auf – ohne die Rechten.

Martin Schirdewan am Redepult auf dem Linkenparteitag im Juni in Erfurt

„Wir wollen sozialen Protest auf die Straße bringen“, sagt Linken-Chef Schirdewan Foto: Martin Schutt/dpa

taz: Herr Schirdewan, wegen der aus Ihrer Sicht unsozialen Verteilung der Krisenfolgen rufen Sie zu einem „heißen Herbst der sozialen Proteste“ auf. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Martin Schirdewan: Der Unmut in der Bevölkerung wächst zusehends, er ist mit Händen greifbar. Die Reaktionen auf unseren Aufruf zu einem heißen Herbst kommen aus allen Richtungen der Republik und sind sehr ermutigend. Angefangen von Haustürgesprächen in besonders betroffenen Vierteln und Orten über Aktionstage und Kundgebungen bis hin zu großen Demonstrationen wird es eine ganze Palette von Aktivitäten geben.

Was versprechen Sie sich davon?

Wir wollen sozialen Protest auf die Straße bringen, um die Bundesregierung dazu zu bewegen, Politik für die Mehrheit der Bevölkerung zu machen und nicht nur die großen Unternehmen sicher durch die Krise zu bringen. Ich bin der festen Überzeugung, dass gesellschaftliche Linke und aktive Zivilgesellschaft jetzt eine historische Verantwortung haben, gemeinsam dafür zu sorgen, dass der Protest gegen die soziale Schieflage in Deutschland gleichermaßen massiv und fortschrittlich wird.

geboren 1975, steht seit dem Erfurter Parteitag im Juni 2022 gemeinsam mit Janine Wissler an der Spitze der Linkspartei. Der in der DDR aufgewachsene Politikwissenschaftler gehört seit 2017 dem EU-Parlament an und ist dort Vorsitzender der Linken-Fraktion. Er gehört zum Reformerlager der Partei.

Was müsste die Bundesregierung denn in dieser objektiv schwierigen Situation angesichts des Kriegs Russlands gegen die Ukraine aus ihrer Sicht anders machen?

Die gerechte Verteilung der Krisenlasten ist eine ganz zentrale Frage, sonst droht der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft weiter zu erodieren. Tatsächlich legt die Ampelkoalition im Moment jedoch eher die Axt an den sozialen Frieden – und damit auch an die Stabilität unserer Demokratie insgesamt. Die Bürgerinnen und Bürger, die Gas brauchen zum Heizen, Kochen und Duschen, zahlen jetzt für die Rettung der großen Gasversorger. Das ist völlig absurd. Statt einer Gasumlage bräuchten wir einen Gaspreisdeckel, doch den will die Ampelkoalition nicht. Ein gesetzliches Verbot von Gas- und Stromabsperrungen, damit am Ende des Monats jeder noch heizen kann und nicht im Dunkeln sitzt, sollte ohnehin eine Selbstverständlichkeit sein.

Immerhin wird jetzt die Mehrwertsteuer auf Gas abgesenkt.

Wir freuen uns über jede Entlastung, aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Das gleicht bestenfalls die Extra-Erhöhung durch die – von der Bundesregierung selbst beschlossene – Gasumlage aus, an den explodierenden Energiepreisen und Lebensmittelpreisen der letzten Monate ändert das nichts. Da geht es um noch mehr Geld. Notwendig ist eine deutliche Entlastung von Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen, damit sie den drastischen Anstieg der Lebenshaltungskosten einigermaßen bewältigen können. Stattdessen werden Krisenprofiteure und Kriegsgewinnler gehätschelt, denen die Regierung eine Übergewinnsteuer, wie es sie in etlichen anderen europäischen Ländern gibt, nicht zumuten will. Die Ampelkoalition setzt die völlig falschen Prioritäten: Für ein gigantisches Aufrüstungsprogramm sind spontan 100 Milliarden da, aber für die Fortsetzung des Neun-Euro-Tickets soll kein Geld da sein? Das ist doch ein Armutszeugnis. Dank der ideologischen Verblendung des neoliberalen Finanzministers befördert die Politik der Bundesregierung die Spaltung der Gesellschaft. Das schadet dem sozialen Frieden im Land mehr, als es alle Putin-Trolle vermögen.

Sollte die Regierung auch die Sanktionen gegen Russland aufheben, wie das Klaus Ernst, Sahra Wagenknecht oder Sevim Dağdelen vehement fordern?

Die Sanktionen im Öl-Bereich – das sind ja die einzigen, die es derzeit im Energiesektor gibt – führen natürlich dazu, dass in bestimmten Regionen, insbesondere im Osten Deutschlands, die Raffinerien vor große Probleme gestellt werden. Die Bundesregierung hat auch hier noch keine ausreichende Antwort darauf gegeben, wie die Zukunft für die Menschen in Schwedt oder Leuna aussieht. Deshalb fordern wir einen Garantieplan für die Region und eine Arbeitsplatzgarantie, um den dort lebenden Menschen eine Perspektive zu geben.

Das ist aber jetzt keine Antwort auf die Frage, ob Sie denn auch wie die drei erwähnten Linken-Abgeordneten für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland sind.

Nein, der Parteitag hat sich da ganz klar positioniert. Ich halte gezielte Sanktionen gegen Putin und seinen Machtapparat, also die Russland dominierende Oligarchenclique, auch für völlig richtig. Das gilt genauso für Sanktionen gegen den militärisch industriellen Komplex, um die Angriffsfähigkeit Russlands einzuschränken. Wir wollen zudem Energieunabhängigkeit und dafür den schnellstmöglichen Ausbau Erneuerbarer Energien. Und offensichtlich erzeugen die Sanktionen ja auch Wirkung, wenn man sich ansieht, dass Putin Teile seiner Industrie schon auf Kriegswirtschaft umstellen musste. Das ist der richtige Weg, um mit zivilen Mitteln Druck auf Putins Regime auszuüben, und den muss man weitergehen. Selbstverständlich würde ich mich freuen, wenn manche Genossinnen und Genossen bei ihren öffentlichen Äußerungen diese Position der Partei stärker berücksichtigen würden.

Die Linkspartei gilt als heillos zerstritten und befindet sich in einem kritischen Zustand. Wäre sie überhaupt in der Lage, die von Ihnen propagierten Proteste zu organisieren?

Wir sind eine diskussionsfreudige Partei und die Krisen unserer Zeit werden bei uns offen verhandelt. Aber der Parteitag hat klare inhaltliche und strategische Entscheidungen getroffen. Und wir sind uns einig, dass es jetzt gilt, einen heißen Herbst der Proteste gegen die soziale Kälte der Bundesregierung auf die Straße zu bringen. Das Feedback, das ich aus den Parteigliederungen kriege, ist absolut positiv. Es entstehen ganz viele kreative Ideen, wie vor Ort auf Straßen, Marktplätzen und vor den Rathäusern Lärm erzeugt werden kann gegen die ungerechte Politik der Regierung. Wobei wir das nicht alleine organisieren wollen, sondern wir streben breite Bündnisse an – von den Sozialverbänden über die Gewerkschaften bis zu Fridays for Future.

Fridays for Future? Haben Sie tatsächlich die Hoffnung, dass sich Klimabewegung und sozialer Protest zusammenführen lassen?

Das passiert bereits. Ich erkenne auf beiden Seiten, dass die Erkenntnis reift, wie eng die soziale und die ökologische Frage miteinander verwoben sind. Zuallererst leiden unter dem Klimawandel immer die Menschen mit geringem Einkommen oder in sozial prekären Situationen. Und gegenwärtig droht nicht nur der soziale Zusammenhalt verloren zu gehen, sondern drohen auch die Klimaziele auf der Strecke zu bleiben. Statt 100 Milliarden für Aufrüstung und Militär auszugeben, hätten sofort 100 Milliarden in eine beschleunigte Energiewende investiert werden müssen, um raus aus der Situation der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu gelangen und gleichzeitig die Inflationskosten für die Bevölkerung zu dämmen. Das war von Anfang an unsere Position. Von daher sehe ich große Überschneidungen. Klimabewegung und sozialer Protest gehören zusammen. Es ist an der Zeit, gemeinsam zu handeln.

Sören Pellmann, Ihr Gegenkandidat auf dem Erfurter Parteitag, ruft zu „Montagsdemos“ auf und hat auch schon die erste für den 5. September in Leipzig angemeldet. Werden Sie auch mit dabei sein?

Ich finde es wichtig, dass die Leute auf die Straße gehen. Der Wochentag ist mir egal. Ob am Montag, am Dienstag, am Mittwoch, am Donnerstag, am Freitag, am Samstag oder am Sonntag – mir ist jeder Tag recht.

Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow warnt eindringlich davor, an die Symbolik der „Montagsdemos“ anzuknüpfen. Liegt er damit falsch?

Natürlich haben Montagsdemos im Osten durch die DDR-Bürgerrechtsbewegung in der Wendezeit eine ganz eigene Prägung erfahren. Aber die Montagsdemos haben unterschiedliche Traditionslinien. In Stuttgart wird seit über zehn Jahren an Montagen gegen „Stuttgart 21“ demonstriert, in Frankfurt am Main gegen den Flughafenausbau. Sören Pellmann hat an die großen montäglichen Demos 2004 gegen Hartz IV erinnert.

Und dann gibt es da noch die ganzen montäglichen Rechtenaufmärsche, die 2014 mit Pegida in Dresden begannen.

Man muss realistischerweise feststellen, dass Montagsdemos in einigen Regionen in Ostdeutschland von rechts zweckentfremdet werden. Aber was ist die Konsequenz daraus? Ich finde nicht, dass man den Rechten einen Wochentag überlassen darf, wenn es darum geht, die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu verteidigen. Dazu müssen wir an jedem Tag bereit sein.

Ramelow hat auch dazu aufgefordert, die Abstandsregel zu Pegidisten, Putinisten und sonstigen Rechten zu beachten. Ist eine solche Aufforderung inzwischen nötig?

Für unsere Mitglieder sicher nicht. Ich habe die Äußerungen von Bodo Ramelow als sinnvolle Klarstellung verstanden: Für rechte Menschenfeinde und ihre antidemokratischen Bestrebungen ist auf unseren Demonstrationen und Kundgebungen kein Platz. Das ist so, da zeigen wir von je her klare Kante. AfD & Co. versuchen mit Verschwörungstheorien den berechtigten Zorn für ihr autoritäres Programm zu missbrauchen. Und sie machen eine falsche Gegenüberstellung auf: entweder soziale Krise oder Unterordnung unter Putin. Dagegen stellen wir uns mit aller Kraft.

Wie wollen Sie denn sicherstellen, dass sich gerade im Osten nicht rechter mit linkem Protest vermischt?

Ich finde es fatal, in eine Diskussion zu geraten, wo sozialer und demokratischer Protest von vornherein delegitimiert wird. Der Fokus muss darauf liegen, den fortschrittlichen Protest so laut zu machen, dass die Rechten keine Rolle mehr spielen. Die Leute haben die Nase voll davon, dass die Bundesregierung keine zufriedenstellenden Antworten auf ihre existenziellen Nöte geben kann oder will. Wenn wir nicht zum Protest aufrufen und ihn voranbringen, dann entsteht genau die Gefahr, dass die berechtigte Unzufriedenheit von rechts instrumentalisiert wird. Auch damit das nicht geschieht braucht es uns. Wir sind als Antifaschisten die entschiedensten Gegner der extremen Rechten. Das gehört zu unserem Gründungskonsens. Und natürlich stellen wir uns mit allem, was wir haben, gegen die Instrumentalisierung sozialer und demokratischer Proteste von rechts.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.