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Hadern mit der Polykrise

Zur Spielzeit 2022/23 stehen die deutschen Bühnen vor offenen Fragen: Kommen die Zu­schaue­r*in­nen zurück? Wozu noch Theater? Oft werden russische Klassiker gespielt

Die Performance „A&E / Adolf & Eva / Adam & Eve“ ist noch am Wochenende im Hamburger Schauspielhaus zu sehen Foto: Alex Stevens, © Paul McCarthy, images courtesy of the artist and Hauser & Wirth2

Von René Hamann

Es wird härter werden. Auch die kommende Theatersaison steht unter mehrfachem Druck. Es ist immer noch keine Entwarnung gegeben, was die überaus lästige Coronapandemie betrifft; die derzeit kursierenden Varianten scheinen zwar wesentlich harmloser zu sein als die vom Anfang der Pandemie; aber ob ein normaler Ablauf im Theatergewerbe vonstattengehen kann, angesichts von Zahlen, die im Herbst wieder durch die Decke zu schießen drohen, bleibt einmal dahingestellt.

Aber auch mit den anderen Krisen – es ist eine Zeit der vielen Krisen, der Begriff Polykrise hat sich fast schon etabliert – hadert das Theater. Auch auf Häuser und Produktionen warten höhere Energiekosten beispielsweise. Auch ist die Frage offen: Wie geht klimagerechtes Theater? Dazu der Krieg in der Ukraine, die steigende Unsicherheit in der Bevölkerung moralischer, ökonomischer, sozialer Natur. Kurzum, das Theater ist selbst vielleicht in die schlimmste Krise seit sehr, sehr Langem geraten. Wozu noch Theater? Warum sich das leisten?

Hier ein paar nackte Zahlen: In der Pandemie brach die Zahl der Aufführungen und Besucher an den deutschsprachigen Bühnen drastisch ein. Gegenüber der Saison 2018/19, der letzten vor Corona, sei die Zahl der Zuschauerinnen und Zuschauer um 86 Prozent zurückgegangen, teilte der Bühnenverein kürzlich mit. Insgesamt wurden 2,54 Millionen Theaterbesuche gemeldet. Die Zahl der Aufführungen sank um 70 Prozent auf rund 22.700.

Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte, vielleicht hilft auch ein neuer, interessierter Blick nach Osten. Können vielleicht die Klassiker noch was sagen, helfen Engagements aus der Ukraine? Das Theatertreffen der Berliner Festspiele, das Best-of des deutschen Theaters, das alljährlich stattfindet, hat schon reagiert: Statt einer Leitung gibt es nun ein Team von vieren: die Ukrainerin Olena Apchel, die beiden Polinnen Marta Hewelt und Joanna Nuckowska sowie Carolin Hochleichter. Sie sollen „grenzüberschreitend, kollektiv und kreativ nach Wegen der nachhaltigen und inklusiven Kunst-, Kultur- und Festivalproduktion suchen“.

Vielleicht helfen da auch russische Klassiker? Schaut man sich die Programme der führenden Häuser so an, ist auf jeden Fall festzustellen: Die Deutschen lieben Tschechow. Immer noch oder immer wieder? Maxim Gorki oder Isaak Babel hingegen werden nicht so oft gespielt, von Daniil Charms gar nicht erst zu sprechen.

Laut Deutschem Bühnenverein hat die Pandemie die hiesigen Theater schwer getroffen: So ist nicht nur die Zahl der Zu­schaue­r:in­nen gegenüber der Saison 2018/19 um mehr als vier Fünftel zurückgegangen. Auch die Zahl der Aufführungen sank um 70 Prozent auf rund 22.700. Ausgeweitet wurden die digitalen Angebote der Bühnen. Sie machen inzwischen fast ein Fünftel aller Produktionen aus. Interessant ist, dass auch der Anteil zeitgenössischer Werke deutlich gestiegen ist.

Aber schauen wir einmal von Norden nach Süden auf ein paar wichtige Häuser und ein weniger bekanntes Haus – und womit dort aufgemacht wird. In Hamburg wird es erst am Ende des Jahres östlich: Im Thalia findet die Uraufführung eines Stücks „frei nach Nikolaj Gogol“ statt, nämlich „Der Wij“. Wer es nicht weiß: „Der Wij“ ist eine fantastische Erzählung des großen Russen, die auch schon mehrfach verfilmt wurde. Es kommen vor: eine Menge Hexen, Dämonen und Berggeister und gewiss auch die eine oder andere Anspielung auf Putin, den Schrecklichen. Regie führt Kirill Serebrennikov. Die Saison eröffnen wird Robert Wilson mit „H“ am 9. September; zwei Tage später öffnet das „Hotel Savoy“ von Joseph Roth unter der Regie von Charlotte Sprenger.

Im Hamburger Schauspielhaus gibt es zum Auftakt Shakespeare. Außerdem Lilith Stangenberg mit Paul McCarthy in „A&E – Adam & Eva“ sowie tatsächlich „Das Ereignis“ nach dem Buch von Annie Ernaux für alle, die den Film noch nicht kennen. Annalisa Engheben versucht sich an einer Theaterfassung, Premiere ist am 14. Oktober. Ebenfalls recht spät, aber der russische Höhepunkt der Saison: Es wird Tschechow gegeben! „Der Kirschgarten“, mit Texten von Dawn King, unter der Fuchtel von Katie Mitchell. Notieren Sie den 26. November!

Im Westen streifen wir kurz das Bochumer Schauspielhaus, das ja auch schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Wird was von Wolfgang Welt gezeigt? Nein. Irgendwelche Russen? Ja: „Kinder der Sonne“ von Gorki! Regie: Mateja Koležnik. Datum: 7. Oktober (wann auch sonst!). Zitat: „Und jeden Tag von Neuem muss Tee serviert werden, aufgeräumt, gekocht, irgendetwas repariert. Jeden Tag muss man springen, wenn nach einem gerufen wird.“ Da muss man wohl hin.

Und, dazu passend, noch ein Zitat von der Webseite: „Ein Abend im Schauspielhaus Bochum. Während die Pandemie weiter tobt, während täglich schlimmste Nachrichten vom Krieg in der Ukraine eintreffen, während ein Stockwerk tiefer die letzten Vorbereitungen für die Vorstellung getroffen werden, entwickelt sich zwischen Intendant Johan Simons und Chefdramaturg Vasco Boe­nisch ein Gespräch über prägende Themen der Zeit, persönliche Ängste und Wünsche und darüber, was es bedeutet, jetzt Theater zu machen.“ Erste Antwort Simons’: „Mein Eindruck ist, dass wir als Thea­ter­ma­che­r*in­nen nicht mehr auf die Suche nach Themen gehen müssen, sondern die Themen uns geradezu heimsuchen.“ Dafür bietet Bochum diese Saison ein reichliches, aber auch reichlich merkwürdiges Programm.

Im Süden schauen wir dieses Jahr einmal nach Stuttgart, wo unter dem Schenkelklopfermotto „Dramatische Zeiten“ ein Nachwuchswettbewerb gestartet wurde, hauptsächlich, wie es sich gehört, digital. Auf www.minidrama.de konnten Kinder und Jugendliche kurze Szenen hochladen und die Texte von anderen kommentieren und bewerten. Am 15. September werden die „interessantesten“ Minidramen vor Publikum präsentiert und ausgezeichnet.

Gegenüber 2018/19 sind die Zuschauer um 86 Prozent zurückgegangen

Und in der Hauptstadt? Weht da ein harter Wind, der rau und kalt von Osten kommt? Die Volksbühne meldet in Bezug auf ihr Programm Stand Mitte August noch nicht viel; im Berliner Ensemble muss man bis 2023 warten, ehe „Iwanow“ nach Tschechow unter der Regie von Yana Ross die Bühne betritt; nämlich am 21. Januar 2023. Das Maxim Gorki Theater bietet tatsächlich null Gorki, aber auch noch mal Tschechow: Am 1. Oktober unter der Regie von Christian Weise kommt „Drei Schwestern“ zur Aufführung. Unglaublich! Auch hier ein Zitat aus dem Programm: „In der Gegenwart der späten DDR traf Tschechows berühmtes Drama den Nerv des Publikums.“ Warum also auch nicht in der späten vereinten BRD?

Und die Schaubühne? Gibt sich ukrainisch Blau-Gelb und „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ von Stas Zhyrkov, dem Theatermacher aus Kiew. Uraufführung am 10. September 2022. Aber: Auch hier kein Gorki, kein Babel, kein Lermontow.

Das Deutsche Theater bietet immerhin noch einmal Tschechow an: „Platonow“, in einer Fassung von Timofej Kuljabin und Roman Dolzhanskij, Regie: Timofej Kuljabin. Mit dabei sind die verlässlich guten Katrin Wichmann und Alexander Khuon. Premiere ist am 23. September. Endergebnis: Tschechow 5, Gorki 1 (plus einmal Gogol. Tja.) Auch hier zum Abschluss noch ein Zitat aus dem Programm zu „Platonow“: „Eine ultimative Komödie über die Zukunftslosen und Verlorenen, die noch einmal aufspielen zu einem letzten, makaber melancholischen Tanz um das Verschwinden der Liebe, des Lebens und vielleicht auch der Kultur.“ Ein treffenderes Schlusswort kann es kaum geben.