Autorin über Heimatverlust und Identität: „Schweigen ist ein großes Thema“

Laura Cwiertnia erzählt in ihrem Roman „Auf der Straße heißen wir anders“ vom Aufwachsen in Bremen-Nord und der Suche nach Zugehörigkeit.

Ein Passant läuft bei windigem Wetter über eine Brücke im Stadtteil Vegesack.

Fühlt sich nicht wie Bremen an, gehört aber dazu: Bremen-Nord Foto: dpa / Sina Schuldt

taz: Frau Cwiertnia, Ihr Roman spielt in Bremen-Nord, wo Sie auch aufgewachsen sind. Was ist das für ein Ort?

Laura Cwiertnia: Bremen-Nord ist ein besonderer Ort. Er ist ein Teil von Bremen, aber, je nachdem wo man hinfährt, gut 30 Kilometer vom Stadtkern entfernt. Allein deswegen fühlt man sich dort, als gehöre man nicht wirklich zur Stadt dazu. Bremen-Nord ist außerdem geprägt von Armut und Migration, gleich am Bahnhof Vegesack steht ein großes Hochhausviertel. Aber es gibt dort auch ein paar Villen und viel Natur.

Wie ist es, dort aufzuwachsen?

Meine Protagonistin Karla wächst ja in Bremen-Nord auf. Für sie ist das keine sehr schöne Erfahrung und sie kommt auch nicht oft zurück, nachdem sie weggezogen ist. Ihre Erinnerung an den Ort ist vor allem von Langeweile geprägt: Auf dem Spielplatz abhängen und Wodka Lemon trinken, mit dem Bus rumfahren, weil man nichts besseres zu tun hat. Erst als sie für die Beerdigung ihrer Großmutter zurückkommt, scheint es ihr plötzlich auch ganz schön und beschaulich dort.

Mit der Beerdigung beginnt der Roman. Es ist für Karla der Auslöser, sich näher mit ihrer armenischen Familiengeschichte zu beschäftigen. Warum erst dann?

Wenn jemand stirbt, dann bricht manchmal auch ein System innerhalb der Familie zusammen. Karla ist mit dem Schweigen über die armenische Geschichte und die eigene Familiengeschichte groß geworden. Als die Großmutter stirbt, werden die Regeln, die all die Jahre in der Familie bestanden haben, durcheinandergewirbelt. Auf einmal traut Karla sich, ihren Vater zu fragen, ob sie zusammen nach Armenien fahren wollen. Und man darf nicht vergessen, dass es auch ein Auftrag der Großmutter ist. Sie sollen nach ihrem Tod einer unbekannten Frau einen Armreif nach Armenien bringen. Am Ende hinterlässt also die Großmutter die Dinge, die vorher nie zur Sprache gekommen sind.

1987 als Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter in Bremen geboren, ist stellvertretende Ressort­leiterin bei Die Zeit.

Auf der Reise nach Armenien geht es auch um die Suche nach Heimat. Was bedeutet das für Sie?

Ich finde den Begriff und was mit ihm gemacht wird, spannend – denn er hat zur gleichen Zeit etwas Aus- und Einschließendes. Die Fragen, die mit ihm verbunden sind, schwingen auch im Buch mit. Karla und ihr Vater Avi fahren in ein Land, wo die meisten Menschen denken würden, es wäre ihre Heimat, weil der Vater Armenier ist. Aber diese armenische Familie kommt nicht aus Armenien, sondern aus der Türkei. Und das ist nicht zufällig. Dort haben früher viele Ar­me­nie­r*in­nen gelebt. Aber mit dem Völkermord Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ihnen ihre Heimat genommen. Das Gefühl der Heimatlosigkeit teilen viele Armenier*innen, die in der Diaspora leben.

Dieses Gefühl prägt auch den Vater und die Großmutter. Wie drückt sich das bei der Protagonistin Karla aus?

Karla fährt einmal nach Istanbul, wo ihr Vater aufgewachsen ist. Hier findet sie viel mehr von ihrer Familie wieder als bei ihrem späteren Besuch in Jerevan. Das laute, bunte, trubelige Leben am Bosporus, das duftende Essen. In Istanbul hat sie sich auf Anhieb heimisch gefühlt. Trotzdem spürt sie, dass sie als Armenierin in der Türkei auch nicht richtig dazugehört, in dem Land wo „Du Armenier“ bis heute ein Schimpfwort ist.

Die Großmutter und der Vater müssen sich andere Namen geben, damit die armenische Herkunft nicht erkannt wird. Die Protagonistin heißt eigentlich Karlotta, will aber Karla genannt werden. Woher rührt ihr Wunsch, anders zu heißen?

Genau, ihre Großmutter und ihr Vater werden als Ar­me­nie­r:in­nen in der Türkei diskriminiert, deshalb verheimlichen sie ihre Namen. Bei Karla ist das anders, aber es hat auch etwas mit dem Nichtdazugehören zu tun. Ihr Vater nennt sie Karlotta, weil der Name so deutsch ist, eine Mischung aus Karl und Otto. Sie selbst hätte stattdessen gerne etwas von ihrer migrantischen Identität im Namen gehabt. So wie die Jugendlichen, mit denen sie aufwächst und die in den Sommerferien in die Heimatländer ihrer Eltern fahren.

Anhand der Protagonistin Karla erzählen Sie die Gegenwart. Durch verschiedene Rückblicke entsteht eine spannende Erzählstruktur.

Lesungen in Hamburg: 26. 8., Kleiner Michel, 19 Uhr, und 3. 9., Buchhandlung Christiansen, 18 Uhr

Lesungen in Bremen: 27. 8., Pusdorf Studios, 18.30 Uhr, und 1. 9., Stadtbibliothek Vegesack, 19 Uhr, und 2. 9., Albatros Buchhandlung, 19.30 Uhr

Lesung in Schleswig: 4. 9., Norden-Festival, Kulturzelt, 17.30 Uhr

Es gibt im Roman eine Gegenwartsebene und Rückblicke, die aus der Sicht der verschiedenen Familienmitglieder erzählt werden. Sie fangen in den 1990er-Jahren an und reichen zurück bis zum Genozid an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts. Ich möchte zeigen, durch welche Erfahrungen die einzelnen Prot­ago­nis­t*in­nen geprägt wurden. Zum anderen war es mir wichtig, deutlich zu machen, wie eine ganze Familie geprägt sein kann, durch Traumata, die durch einen Völkermord ausgelöst werden.

Inwiefern?

Zum einen durch den ganz realen Verlust, von Menschen, Orten, einer Kultur, aber auch von Status. Die Urgroßmutter stammte aus einer gebildeten Familie von Goldschmieden, ihre Tochter wuchs als verarmte Analphabetin auf. Aber auch das Trauma überträgt sich über Generationen, durch bestimmte Ängste, Erinnerungen, Themen, die einen berühren. Bei Karla zeigt sich das zum Beispiel, als sie das Völkermord-Museum in Jerevan betritt. Vorher dachte sie nur, ihr Vater hätte ihr nichts über dieses Thema erzählt. Dort merkt sie, vielleicht hat auch sie sich nicht so tief damit beschäftigen wollen. Trotz oder gerade wegen des Schweigens in ihrer Familie prägt es sie.

Die Großmutter kommt als Gastarbeiterin nach Deutschland. Wieso sind die Geschichten der Gastarbeiterinnen so unbekannt?

Meine eigene Großmutter ist als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen. Zusammen mit mindestens 700.000 anderen Frauen. Ihre Erfahrungen sind oft mit schrecklichen Erinnerungen verbunden; Dinge, über die sie nicht gerne sprechen wollen. Es wird also einerseits nur wenig erzählt, aber es ist natürlich auch der Blick der Gesellschaft: Wer schreibt die Geschichte? Die Erfahrungen der Gastarbeiterinnen sind bisher kaum ins kollektive Gedächtnis eingegangen.

Die Handlung des Romans ist nah an Ihrer eigenen Familiengeschichte. War es auch eine Möglichkeit, Ihre Familie zum Sprechen zu bringen?

Auf jeden Fall. Das Schweigen ist auch in meiner Familiengeschichte ein großes Thema, so wie in vielen anderen Familien von Armenier*innen. Das hat auch viel mit der Leugnung des Völkermordes durch die Türkei zu tun, die es noch schwerer macht, über die Taten zu sprechen. Durch das ­Schreiben hatte ich einen Anlass, Fragen zu stellen und ins Gespräch zu kommen. Nicht nur mit meiner Familie, sondern auch mit Forscher*innen, Gastarbeiter*innen, Armenier*innen. Sie haben mit mir ihre Geschichten geteilt und dafür bin ich dankbar.

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