Flüchtende auf dem Mittelmeer: Brutalität, wo einst Scham war

Sieben Jahre nach dem Tod von Alan Kurdi ist Europa von einer humanen Flüchtlingspolitik entfernter denn je. Auch die Ampel ist eine Enttäuschung.

Migranten geben Signale an die Rettungskräfte einer NGO mit ihren Mobiltelefonen im Mittelmeer Foto: Juan Medina/reuters

Als am Freitag vor genau sieben Jahren der zweijährige Alan Kurdi an der türkischen Küste angeschwemmt wurde, war das erschütternde Foto der Leiche allgegenwärtig. Das in diesem Bild verdichtete Leid der Flüchtenden war damals etwas, das in Europa Scham und Entsetzen auslöste. Ebendiese Scham ist seither verloren gegangen. Die Brutalität, mit der sich Europa gegen Flüchtende abschottet, wird heute nicht mehr versteckt. Die Verantwortlichen stehen zu ihr – völlig ungeniert.

Diesen August starb in Griechenland ein anderes Kind auf der Flucht. Es hieß Maria, ein fünfjähriges Mädchen aus Syrien, das mit seiner Familie nach Griechenland zu gelangen versuchte wie einst Alan Kurdi. Doch heute ist Griechenland offen dazu übergegangen, Schutzsuchende mit Gewalt am Grenzübertritt zu hindern – tausendfach.

Marias Familie saß wochenlang auf einer Insel im Grenzfluss Evros fest; griechische Sicherheitskräfte versperrten den Weg. Medien berichteten, nichts geschah. Die Familie trank Wasser aus dem schlammigen Fluss, das Kind starb. Der Spiegel-Journalist Giorgos Christides, der den Fall von Maria und ihrer Familie mit recherchierte, wurde in diesen Tagen von der griechischen Regierung öffentlich und persönlich angegriffen, wie man es sonst aus autokratischen Staaten kennt.

Der Blick nach Malta, nach Libyen, nach Italien, nach Algerien, nach Ceuta und Melilla, an den Ärmelkanal, an die Grenzen von Polen und Belarus, von Kroatien und Serbien zeigt ein ähnliches Bild: eine mörderische Entrechtung Hilfloser, wofür sich heute niemand mehr ernsthaft schämt, wofür keine politischen Konsequenzen mehr zu befürchten sind.

Sinkende Boote im Wochentakt

Im Wochentakt sinken Flüchtlingsboote im Mittelmeer, immer noch, immer wieder, obwohl ihre Rettung ein Leichtes wäre. Welche Rolle Deutschland, lange Treiber der Abschottung, in dieser Lage spielen will, ist offen. Die Ampel hat die Dinge im Koalitionsvertrag klar benannt, sich verpflichtet, die Entrechtung zu stoppen – und dafür konkrete Vorhaben genannt: staatliche Hilfe für die Seenotrettung, Entlastung für die EU-Außengrenzenstaaten durch einen freiwilligen, aber wirksamen Umverteilungsmechanismus für Ankommende.

Während in den vergangenen Monaten anderes, Unabweisbares auf die Agenda drängte, ist die Bilanz der Ampel bisher äußerst dürr. Eine Politik, die Flüchtlingsrechten wieder Geltung verschafft, ist nicht in Sicht. Jene, die in der Flüchtlingsabwehr keine zivilisatorischen Hemmungen mehr kennen, ermutigt das weiter. Und wenn in Italien bald die Postfaschisten die Regierung anführen, wird die Lage noch schwieriger.

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Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social

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