Reallöhne sinken drastisch: Vorbote von Wirtschaftskrise

Die Reallöhne sind im ersten Halbjahr kräftig gefallen. Schon jetzt steht fest: Der Herbst wird noch schlimmer.

Eine Frau steht vor einem Regal mit Schuhkartons und Schuhen in einem Geschäft. Sie greift mit dem Arm nach einem Karton etwas über Kopfhöhe.

Auch der Schuhhandel spürt die durch die hohe Inflation ausgelöste Konsumzurückhaltung Foto: Maja Hitij/dpa

BERLIN taz | Auch wenn die Mehrheit hierzulande bislang noch wenig von einer handfesten Wirtschaftskrise zu spüren bekommen hat: Der Wohlstandsverlust ist in vollem Gange.

Wegen der hohen Inflation sind die Reallöhne im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahresquartal um 4,4 Prozent gesunken. Zwar sind die Bruttomonatsverdienste der Ar­beit­neh­me­r*in­nen einschließlich diverser Sonderzahlungen um 2,9 Prozent gewachsen. „Allerdings stiegen die Verbraucherpreise im selben Zeitraum um 7,6 Prozent“, teilte das Statistische Bundesamt am Montag mit. Ein größeres Minus des Reallohns hatte es zuletzt zu Beginn der Coronakrise im Frühjahr 2020 gegeben, als Millionen im Zuge der Lockdowns in Kurzarbeit geschickt wurden. In diesem Jahr waren die Reallöhne aber bereits im ersten Quartal gesunken, wenn auch mit 1,8 Prozent noch deutlich schwächer.

Für das bevorstehende Herbstquartal droht vielen Beschäftigten ein noch sehr viel stärkerer Reallohnverlust. Wegen der weiter massiv steigenden Energiepreise vor allem in den Wintermonaten rechnen Ökonomen mit einer Inflation von um die 9 Prozent oder höher. Aktuell liegt die Teuerungsrate noch bei 7,5 Prozent. Tankrabatt und 9-Euro-Ticket haben den Preisauftrieb zuletzt gedämpft. Beide Maßnahmen laufen jedoch Ende August aus. In anderen europäischen Ländern, die ebenfalls erheblich von russischem Gas abhängig waren, liegt die Teuerungsrate schon jetzt bei über 10 Prozent. In Großbritannien stellen sich Experten auf eine Inflationsrate von 18 Prozent ein.

Schon jetzt ist klar, dass die meisten Beschäftigten auch im Gesamtjahr einen Kaufkraftverlust zu verzeichnen haben. Die bislang vereinbarten Tariferhöhungen lagen im Schnitt bei um die 3 Prozent, sehr viel höhere Tarifsteigerungen dürfte es auch in den noch bevorstehenden Verhandlungen nicht geben. Das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) rechnet mit einem Reallohnverlust übers gesamte Jahr gerechnet von 3,6 Prozent. Es sei bereits das „zweite Jahr in Folge“ mit Reallohnverlusten, sagte der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten.

Fast die Hälfte der Bevölkerung hat kaum Rücklagen

Einer Prognose des Banken-Verbands zufolge haben 40 Prozent der Haushalte schon jetzt so gut wie keine Ersparnisse, bis zu 60 Prozent werden in den nächsten Monaten angesichts der massiv gestiegenen Preise kaum etwas zurücklegen können. Die meisten sehen sich daher gezwungen, ihre Ausgaben zu reduzieren. Das heißt: weniger Restaurant- und Kneipenbesuche, Reisen, Einkäufe auch in Biogeschäften. Im Lebensmitteleinzelhandel sind Naturkostfachgeschäfte daher auch schon erheblich von den Ausgabenkürzungen betroffen.

Einzelhandelsgeschäfte und der Dienstleistungssektor dürften in den kommenden Monaten wirtschaftlich denn auch besonders unter Druck geraten. Schon jetzt geht in Erwartung noch höherer Energieausgaben der Konsum drastisch zurück. Angesichts des auch im europäischen Vergleich hohen Anteils der Bevölkerung in Deutschland ohne finanzielle Rücklagen fordern Sozialverbände dringend weitere Entlastungsmaßnahmen, insbesondere für Geringverdiener*innen, Alleinerziehende, Rent­ne­r*in­nen und Studierende.

Was paradox erscheint: Trotz der Energiekrise und der massiv steigenden Preise rechnen die Arbeitsagenturen in Deutschland zunächst mit einer weiteren Zunahme der Beschäftigtenzahl. Denn in fast allen Branchen gibt es derzeit auch weiterhin einen Arbeitskräftemangel. Der Arbeitskräfteindex des IAB erreichte im August einen Höchststand. Doch das ist keineswegs ein Segen. Im Gegenteil: Viele Betriebe müssen Aufträge stornieren, weil es ihnen an Mit­ar­bei­te­r*in­nen fehlt. Das führt gesamtwirtschaftlich ebenfalls zu Wohlstandsverlusten.

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