30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: Eine Wunde, die nicht heilen will

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen jährt sich zum 30. Mal. Unser Autor lebte damals in der Nachbarschaft. Was hat sich seither getan?

In Brand gesteckter Raum im Sonnenblumenhaus, Möbel, Fenster verkohlt

In Brand gesteckter Raum im „Sonnenblumenhaus“ am 25. August 1992 Foto: dpa

Als S., ein Bekannter um die 30 Jahre alt, mit hohem Bildungsgrad, politisch eher links, nach prägenden Erfahrungen meiner Jugend fragte, antwortete ich nur, dass ich halt Anfang der 1990er in Rostock gelebt hatte, in Rostock-Lichtenhagen. Statt damit einen knappen, aber nachvollziehbaren Referenzrahmen gegeben zu haben, schaute ich nun aber in eine verständnislose Leere. S. hatte noch nie von Lichtenhagen gehört.

Das wäre vor vielleicht 20 Jahren anders gewesen. Noch teilweise bis zur Jahrtausendwende verbanden Menschen selbst im europäischen Ausland mit Lichtenhagen zumindest vage die Bilder des tobenden Mobs. Der belagerte vier Tage lang, vom 22. bis zum 25. August 1992 das „Sonnenblumenhaus“, in dem die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Mecklenburg-Vorpommern und ein Wohnheim für ausländische Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen untergebracht waren. Die Polizei war in der gesamten Zeit nicht in der Lage oder unwillens, die bis dahin schwersten rassistischen Übergriffe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg zu beenden. Jahrelang weigerte sich das offizielle Rostock, an den Terror jener Augusttage zu erinnern oder ihn auch nur beim Namen zu nennen. In gängiger Sprachregelung war zumeist von „Krawallen“ die Rede.

Die Sorge um den Ruf der Stadt, geprägt von Tourismus und Hafen, „Tor zur Welt“ ihr Beiname in der DDR, war groß. Tja, Pech gehabt, das Fernsehen ist dabei gewesen. Gemeinsam mit mehr als 100 Menschen, in einem brennenden Haus, angezündet von Nazis, unter dem Beifall Tausender Anwohner*innen. Kein Teppich war groß genug, die Scherben und Trümmer darunterzukehren. Doch was sich damals nicht so recht totschweigen lassen wollte, verblasste sang- und klanglos mit den Jahren. Ein Mann, den Hitlergruß zeigend, in vollgepisster Jogginghose, eine Lachnummer letztlich, blieb im öffentlichen Gedächtnis. Und für einige eben nicht einmal das.

Wer dabei war, wird den Schmerz nie wirklich losgeworden sein, doch auch der ist irgendwann verdrängt. Zeit heilt nicht alle Wunden, es legen sich nur Narben über Narben, manche besser versorgt, manche schlechter. Zum 20. Jahrestag pflanzte der Bundespräsident eine Eiche. In kürzester Zeit war sie gefällt, von mutmaßlichen Antifaaktivist*innen, denen der deutscheste aller Bäume wohl ein etwas unangemessener Beitrag zur Debatte schien. Erinnerung ist ein Schlachtfeld.

„Teil der Stadtgeschichte“

Der derzeit amtierende Oberbürgermeister Rostocks spricht bezugnehmend auf Lichtenhagen 92 von einem Pogrom. Immerhin. So einige seiner Vorgänger hätten sich eher die Zunge abgebissen. Doch akademische und künstlerische Annäherung haben offenbar genug Vorarbeit geleistet, dass man das Ereignis in historisierender Distanziertheit als „Teil der Stadtgeschichte“ in repräsentative Formeln integrieren kann.

Dabei ist Lichtenhagen vielmehr als das. Lichtenhagen lässt sich nicht auf einen inkontinenten Idioten reduzieren, und genauso wenig als lokal begrenzte oder bedauernswerte Anekdote individueller Lebensläufe erfassen. Die Erinnerung an das Pogrom muss kontextualisieren – über den konkreten Ablauf, über den Ort, über die unmittelbar Beteiligten hinaus.

Das brennende Sonnenblumenhaus markierte schließlich einen Höhepunkt der rassistischen Gewaltwelle jener Jahre. Ein hohes Fest für organisierte Neonazis aus der gesamten Bundesrepublik, genauso wie lokale Gelegenheitsfaschisten, war das Pogrom eben auch eine beunruhigende Aufführung der Staatsgewalt. Unter wohlwollendster Betrachtung war sie überfordert, wenn man sie nicht sogar der offenen Kumpanei beschuldigen muss. Im Nachgang dann war Lichtenhagen der willkommene aktuelle Hebel für die lange geplante faktische Abschaffung des allgemeinen Asylrechts. Volkes Stimme hatte schließlich mit Nachdruck ihren Debattenbeitrag abgeliefert.

Ob wir uns dieses einen Bebens nun erinnerten oder nicht, die Erschütterungen waren in den folgenden 30 Jahren immer wieder spürbar. Denn das offensive Stillschweigen signalisierte Einverständnis, es ermutigte zu weiteren Verbrechen. Der Journalist Velten Schäfer schrieb anlässlich der kaum in Schranken gewiesenen flüchtlingsfeindlichen Ausschreitungen des Jahres 2015 durchaus sorgenvoll: „Dieser Sommer wird Kinder kriegen. Die Kinder von Lichtenhagen hießen Mundlos und Böhnhardt.“

Mörderisches Grenzregime

Und nicht nur die, war doch der sogenannte Asylkompromiss, ausgehandelt zwischen CDU und SPD, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum mörderischen Grenzregime der heutigen Europäischen Union. Wenn der NSU in Lichtenhagen gelernt haben mag – die Musterschülerin des Jahrgangs 1992 ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Wer einen Gedenkort sowohl für die Opfer rechten Terrors als auch für die Zehntausenden Toten im Mittelmeer suchte: Das Sonnenblumenhaus stünde weit oben auf der traurigen Shortlist.

Das ist das vielleicht größte Problem mit der Erinnerung an Ereignisse, die bei genauer Betrachtung noch lange nicht an ihrem Ende angekommen sind. Allein das griffige Schlagwort der Baseballschlägerjahre stellt, ob gewollt oder nicht, zunächst einmal zeitlichen Abstand her. Nur, reden wir wirklich von einer abgeschlossenen Vergangenheit, wenn wir über die prügelnden Stiefelnazis der 90er sprechen oder nicht doch von einer Zeit, die im brutalsten Wortsinne in das Heute hineinblutet? Sind Halle, München, Hanau denn nicht Beleg genug für die ungebrochene Kontinuität tödlicher rechtsradikaler Gewalt?

Allein die Weigerung, den strukturellen Rassismus, die stumpfe Unmenschlichkeit, das Pogrom beim Namen zu nennen, hatte wesentlichen Anteil an der nachfolgend immer wieder hervortretenden Brutalität. Eine Gesellschaft, die sich keinen Begriff von ihrer eigenen Grausamkeit machen will, kann diese auch nicht überwinden. Die nachträgliche Musealisierung ist dann wohlfeil, wenn auch beim stolzen Erinnerungsweltmeister Deutschland fleißig erprobt.

Eine kleine weiße Marmorstele, gut versteckt zwischen einem erst später gebauten generischen Supermarktklotz und der damaligen Brandstelle in der Mecklenburger Allee in Lichtenhagen, ist Teil eines mehrteiligen, dezentralen Gedenkortes in Rostock. Ohne weitere Erläuterung steht das da, noch dazu mit der, gemessen am Anlass, etwas befremdlichen Gravur „Selbstjustiz“.

Eine Art Selbstjustiz

So eine Art Selbstjustiz wurde denn auch gleich nach ihrer Einweihung vor fünf Jahren an mindestens drei der über die Stadt verteilten Säulen geübt. Den selbstermächtigten Vigilanten ist ganz offensichtlich selbst diese verschämte Art des Gedenkens zu viel. Auch dieser Tage ist das kleine Denkmal in Lichtenhagen wieder beschmiert. Erinnerung ist ein Schlachtfeld – immer und überall.

In der ausgedehnten Fußgängerzone in Hanau finden sich an fast jedem Laternenpfahl Aufkleber mit den Namen der am 19. Februar 2020 Ermordeten. Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz…. – „#SayTheirNames – Rassismus tötet“. Und an einem dieser Aufkleber, in der Rosenstraße, hat jemand mit Geduld und Akribie versucht, die Namen wegzukratzen. Jemand, der oder die in geradezu manischer Weise die Macht des Vergessens anruft und eine Ahnung demonstriert, was der Preis wirksamer Erinnerung ist.

Den benennt Emiş Gürbüz, Mutter des am 19. Februar 2020 in Hanau ermordeten Sedat Gürbüz: „Deutschland schuldet mir ein Leben.“ In einem Video der Ausstellung „Three Doors“ im Frankfurter Kunstverein wird dieser Satz neben den Statements anderer Hinterbliebener des Anschlags wieder und wieder ausgesprochen.

Und es schwingt dabei so unüberhörbar mit, wie diese Schuld nie beglichen, aber auch nie vergessen werden kann. Denn es sind so viele Leben, die Deutschland schuldet und dabei so dringend vergessen will. Viel zu oft hält dabei allein die übermenschliche Kraftanstrengung der Hinterbliebenen, der Betroffenen die Erinnerung am Leben.

Gewiss, die Welt dreht sich weiter. Ob nach Hoyerswerda, nach Lichtenhagen, nach Mölln, nach Hanau oder Halle oder während im Mittelmeer bei Pushbacks Menschen sterben. Aber es ist schon eine Entscheidung, es ausgerechnet diese Welt sein zu lassen, in der wir so beiläufig auf Leben verzichten können. Die andere mögliche Entscheidung wäre ein „Nie wieder!“. Nicht als selbstgefällige Floskel, sondern als Garantie.

Als Garantie, dass nicht gleichgültig hingenommen wird, wenn Menschen gejagt und Häuser angezündet werden. Als Garantie, dass niemand, auch in 30 Jahren nicht, je vergessen oder zurückgelassen wird. Und letztlich als Garantie, dass kein Verbrechen ungesühnt bleibt.

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Am 22. August 1992 begannen die tagelangen Angriffe auf das Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen. Für die taz berichtete damals die spätere Chefredakteurin Bascha Mika in drei Reportagen von vor Ort. Im ersten Text beschrieb sie, wie Tausende AnwohnerInnen ihre Leute anfeuerten: „Skins, haltet durch!“ Im Bericht vom zweiten Tag erzählt sie, dass sich die Polizei, kurz bevor der erste Brandsatz flog, zum Schichtwechsel zurückzog. In der dritten Reportage schrieb Bascha Mika über die hunderte Rechte, die immer noch zu den mittlerweile leeren Plattenbauten ziehen.

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