Hotel Guantánamo

Die USA halten die UNO für überflüssig und haben sich von ihrer Rolle als vorbildlicher Rechtsstaat verabschiedet. Eine Mahnung zum Tag zur Unterstützung der Folteropfer

US-Politiker sorgen sich weniger um das Lager an sich als um das Imageproblem, das es hervorruft

Ägypten ist dabei. Syrien seit letztem Jahr auch, Brasilien und Kolumbien sind es schon länger, Russland, die USA und Deutschland sowieso. Und weitere 136 von insgesamt 191 in der UNO vertretene Staaten. Sie alle haben die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen ratifiziert, die am 26. Juni 1987 in Kraft trat.

Dennoch wurde mindestens in 104 Staaten 2004 misshandelt und gefoltert. Das kleine Zahlenspiel offenbart die Dramatik des Rechts, zumal des Völkerrechts: Der Buchstabe schützt die Menschen nicht. Das Recht muss um- und durchgesetzt werden. Damit wir daran denken, gibt es Gedenktage. Seit 1998 wird der 26. Juni als „Internationaler Tag der Vereinten Nationen zur Unterstützung der Folteropfer“ begangen.

An diesem Tag sollte man daran erinnern, dass das Ob und Wie der Verwandlung von Recht in Schutz davon abhängt, wie politische Macht eingesetzt wird und wie Vorbilder wirken. Deshalb – und nicht aus Antiamerikanismus – ist es so wichtig, bei den USA ganz besonders genau hinzusehen. Wenn der mächtigste Staat der Welt, der seine demokratische und rechtsstaatliche Verfassung stets als Vorbild preist, den Vorrang der UNO zur Lösung internationaler Konflikte infrage stellt, eine völker- und menschenrechtsbasierte Politik als veraltetes Paradigma abtut und weltweit Menschenrechte schwer verletzt, dann produziert das reichlich Nachahmer und Trittbrettfahrer. Das hat erhebliche Probleme für die internationale Staatengemeinschaft zur Folge – und Folteropfer.

Größtenteils seit über drei Jahren sind Menschen auf Verdacht hin weggeschlossen. Ohne dass sie wissen, wessen sie beschuldigt werden. Ohne dass sie einen Anwalt, ihre Familien, das Letztgeborene gesehen haben. Ohne Prozess. Unter vielfach menschenunwürdigen Haftbedingungen. Rund um den Globus entführen und verschleppen US-Geheimdienstbeamte Menschen, weil sie des „Terrorismus“ verdächtig sind. Monatelang sind die Opfer verschwunden, dann tauchen sie wieder auf, in Lagern wie Guantánamo und Baghram in Afghanistan, in Gefängnissen wie Abu Ghraib. Sie werden misshandelt, gefoltert. Oder sie werden Staaten zugeführt, in denen Folter eine übliche Verhörmethode ist: Ägypten, Syrien, Pakistan.

Das geht seit über drei Jahren so, und man hatte begonnen, sich daran zu gewöhnen. Zu wenige hat es noch empört, dass Menschen per Regierungsbeschluss in Sonderkategorien verschoben werden, für die die unveräußerlichen Menschenrechte eben nicht mehr gelten. Dauert ein solcher Skandal nur lange genug an, wird er zur Gewohnheit und von den Medien kaum mehr wahrgenommen.

Als amnesty international Guantánamo zum „Gulag des 21. Jahrhunderts“ erklärte, machte daher zunächst die Ungehörigkeit des Vergleichs Schlagzeilen, nicht die Unerhörtheit, die er scharf beleuchtete. Dabei hatte amnesty die gewichtigen Unterschiede auch nie bestritten; natürlich geht es nicht um Millionen Gefangene, es gibt keine Zwangsarbeit, und es verhungert niemand. Es geht aber darum, Strukturanalogien zu benennen und Dimensionen wie Relationen des Skandals zu vermessen. Denn Guantánamo ist nicht in der spätimperialistischen Zeit von einer stalinistischen Diktatur errichtet worden, sondern vom weltgrößten Rechtsstaat im Zeitalter der UNO. Dieses Zeitalter scheint damit beendet.

Das starke Wort war vonnöten, um die dahindämmernde internationale Öffentlichkeit wachzurütteln und daran zu erinnern, dass in Guantánamo hunderte von Menschen Tag für Tag systematisch und vorsätzlich Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden. Dass Guantánamo zum beunruhigenden Symbol einer unerklärten Nach-UNO-Ära geworden ist. Dass Guantánamo nur Teil eines teilweise noch unbekannten Archipels ist. Und dass Guantánamo die Praxis eines „Feindstrafrechts“ bedeutet, das damit als juristisches Handwerkszeug eines permanenten „Krieges gegen den Terror“ eingeführt ist. Eines Kriegs, der weltweit geführt wird, in den Bergen Afghanistans, im juristischen Niemandsland Guantánamo und an diskursiven Fronten: Folter muss in Einzelfällen erlaubt sein, kann man neuerdings in deutschen juristischen Kommentaren lesen.

Seit Wochen feuert die US-Regierung täglich auf die „Kritiker“ und zeigt, wie empfindlich sie getroffen wurde. Jüngst durchgesickerte Berichte des FBI und des Roten Kreuzes bestätigen, dass auf diesem Archipel misshandelt und gefoltert wird. Interessanterweise aber geht es bei der inneramerikanischen Kontroverse weniger um das Lager an sich als um das Imageproblem, das es heraufbeschwört.

Bill Clinton etwa fordert, Guantánamo zu schließen. Warum? Damit die Berichte über Misshandlungen aufhören. Denn: „Soldaten aus den USA und Großbritannien sind einem sehr viel größeren Risiko ausgesetzt, wenn sie den Ruf haben, Menschen zu misshandeln.“ Senator Mel Martinez stellt fest, dass das Lager zum „Symbol für schlechte Geschichten“ geworden sei, und fragt sich, „ob das Kosten-Nutzen-Verhältnis noch stimmt“.

Auch Pro-Guantánamo-Militärs wie Exgeneralmajor Don Sheppard fürchten ein „Imageproblem“. Und Vizepräsident Dick Cheney will nur dieselbe Furcht in sich übertönen, wenn er jede Kritik zurückweist. Das ist lärmend, verkennt aber den Ernst der Lage. Wie ist es sonst möglich, dass ein republikanischer Senator im Fernsehen auftreten und einen „Guantánamo- Teller“ mit Fisch und Huhn in die Kamera halten kann? „Sie haben nie besser gegessen und wurden nie besser behandelt“, verkündete Duncan Hunter dem Publikum. Es fehlte nur noch ein Begleitspot über das „Hotel Guantánamo“, und die Ahmeds oder Mohammads in ihren Dreiquadratmeterzellen über der idyllischen Bucht an der Südküste Kubas wären zur amerikanischen Variante von „Florida-Rolf“ avanciert.

Bestürzend ist: Solche Fernsehmenüs bebildern vor allem die analytisch-moralische Diät, die sich die amerikanische Politik in dieser Frage verordnet hat. Sie will nicht akzeptieren, dass die menschenrechtliche, politische und moralische Ungeheuerlichkeit schon in der puren Existenz von Guantánamo liegt.

Guantánamo ist zum beunruhigenden Symbol einer unerklärten Nach-UNO-Ära geworden

Es ist überfällig, den demokratischen Rechtsstaat USA von dieser Schande zu befreien. Als erste Maßnahme ist das Lager zu schließen. Die Gefangenen sind vor ein ordentliches US-Gericht zu stellen oder sofort freizulassen. Die US-Regierung hat offen zu legen, an welchen anderen Orten auf der Welt sich welche weiteren Gefangenen befinden.

Das Internationale Rote Kreuz, UNO-Sonderberichterstatter und andere unabhängige Beobachter müssen Zugang zu diesen Haftzentren erhalten. Und schließlich müssen die Vorwürfe von Misshandlung und Folter endlich unabhängig untersucht werden. Dass der Angeklagte – das Militär – sich hier selbst untersucht und gegebenenfalls richtet – wie im Fall der Abu-Ghraib-Verfahren – oder eher nicht, ist eines Rechtsstaates unwürdig.

DAWID DANILO BARTELT