Ein Jahr Afghanistan unter den Taliban: Ideologie statt Pragmatismus

Afghanistan ist international isoliert und wirtschaftlich am Boden. Die herrschenden Taliban ignorieren die Probleme und unterdrücken Proteste – noch.

Ein Talib mit Gewehr steht auf einer Straße in Kabul, neben ihm geht eine verschleierte Frau

Gesichter Kabuls: Eine verschleierte Frau und ein Talibankämpfer auf einem Markt im Mai 2022 Foto: Ebrahim Noroozi/ap

Sie habe schon immer Burka getragen, wenn sie dienstlich über Land fuhr, erzählt Chatera* am Telefon. „Das war meine eigene Entscheidung. Ich kann schwer ertragen, dass mir das jetzt aufgezwungen wird“, sagt sie, und meint damit die Anordnung der Talibanregierung vom Mai, laut der alle afghanischen Frauen in der Öffentlichkeit ab sofort Körper und Gesicht verhüllen müssen.

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Für Paschtana*, die in Kabul für eine NGO arbeitet, ändert sich wenig: „Unsere Eltern waren schon vor den Taliban Muslime, haben darauf geachtet, was ihre Töchter tragen und dass Frauen sich verschleiern.“ Saleha*, Lehrerin in Balch, sagt, viele Frauen unterwürfen sich dem Schleierdiktat, weil sie den Taliban „keinen Vorwand liefern wollen, die Schulen zu schließen“. Balch gehört zu den 9 Provinzen – von insgesamt 34 –, in der weiterführende Mädchenschulen weiterhin offen sind.

„Die Mädchen in meiner Heimatstadt Bamian kümmern sich nicht darum, was die Taliban denken“, sagt wiederum Schah Gul*. Dann relativiert die frischgebackene Uni-Absolventin jedoch: Weil die neuen Herrscher angekündigt haben, sie würden ihre Väter oder Brüder für die Verletzung der Vorschrift zur Verantwortung ziehen, befolgten „viele Mädchen“ sie doch, um ihre Familien zu schützen.

Keine Frauenproteste seit März

Diese Variante von Sippenhaft gehört zu dem Instrumentarium, mit dem die Taliban nach dem schmählichen Abzug des Westens und ihrer Machtübernahme im August 2021 ihre Vorstellung einer islamischen Ordnung umsetzen wollen. Dabei wollen sie sich vom Westen nicht hineinreden lassen. Und auch im Innern erklärten sie jegliche friedliche Opposition, die sich „außerhalb der Scharia“ bewegt, zur „Rebellion“: Seit März gibt es keine öffentlichen Proteste von Frauen mehr, die nach der Machtübernahme der Taliban immer wieder in kleinen Gruppen unter Slogans wie „Brot, Arbeit, Freiheit“ auf die Straße gegangen waren und damit die politische Hegemonie der Taliban herausfordert hatten.

Vorerst ziehen sie sich in Privaträume und die sozialen Medien zurück. Eine junge Kabulerin, Teil der Protestbewegung, sagte der taz, sie nutze den Schleier, „damit ich von den Taliban nicht erkannt und verhaftet werde“.

Zusätzlich verspielten die Taliban die Chance, die Mitarbeiter der alten Regierung für sich zu gewinnen und somit ein halbwegs reibungsloses Weiterfunktionieren des Staatsapparats sicherzustellen. Trotz eines Amnestieversprechens kommt es immer wieder zu Festnahmen, sogar Morden, von denen niemand mit Gewissheit sagen kann, ob da alte Rechnungen aus einem Krieg beglichen werden, den alle Seiten ex­trem brutal führten – oder ob das die Politik der Talibanführung ist, um möglichen Dissens zu unterdrücken.

Damit haben sich die Taliban in ein doppeltes Dilemma manövriert, das ihr Regime in eine Legitimationskrise stürzen könnte. Zum einen haben ihre Unterdrückungsmaßnahmen, wie bereits während ihrer ersten Herrschaft von 1996 bis 2001, in die internationale Isolation geführt. Und die bedingt einen Zusammenbruch großer Bereiche der Wirtschaft.

Denn der Westen versagt dem Talibanregime die politische Anerkennung. Die sogenannten Geberstaaten verhängten Sanktionen und froren afghanische Guthaben im Ausland ein. Dadurch bleiben Entwicklungszahlungen aus, die unter der alten Regierung drei Viertel der Staatsausgaben deckten. In bisher regierungsgeführten Bereichen wie dem Gesundheits- und Bildungswesen sowie bei NGOs fielen seitdem massenhaft Jobs weg. Zudem drängten die Taliban beziehungsweise die Angst vor ihnen viele Frauen aus der Lohnarbeit. Das alles führte in eine wirtschaftliche und humanitäre Krise.

Die Armutsquote liegt bei über 90 Prozent

Laut UNO verzeichneten seit August 2021 acht von zehn Haushalten einen „drastischen“ Einkommensrückgang. Die Armutsquote liegt über 90 Prozent und die Hälfte der Bevölkerung ist weiter am Rande des Hungers. Das seien „mehr Menschen als in jedem anderen Land der Welt“, so Martin Griffiths, UN-Koordinator für Humanitäres, im Juni vor dem Weltsicherheitsrat. Er befürchtet ein ähnliches Szenario zum Jahresende: „Die meisten ländlichen Haushalte werden ihre Nahrungsmittelreserven in diesem Jahr gefährlich früh aufgebraucht haben – wegen der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren.“

Da der Westen diese humanitäre Krise nicht ignorieren kann, hat sich unterhalb der Schwelle der diplomatischen Anerkennung eine pragmatische Kooperation zwischen den „De-facto-Autoritäten“, wie der Westen die Taliban nennt, und Hilfswerken herausgebildet. Die USA gaben Gelder wieder frei, die über die UNO an ein NGO-Konsortium in Afghanistan – und damit an den Talibanbehörden vorbei – geleitet werden. Das gab es bereits vorher bei der Bekämpfung von Covid-19, bei der Polio-Immunisierung und es griff auch bei der Überwindung der Folgen der Erdbebenkatastrophe im Juni 2022 in Südostafghanistan.

Normalisieren die Taliban ihr Verhältnis zum Westen nicht wenigstens teilweise, könnte das zusammen mit der sich verschärfenden zyklischen Dürre zu einer Dauerkrise führen. Finden sie mittelfristig keine Lösungen für die Wirtschaftskrise, könnten sich auch jene Teile der Bevölkerung gegen sie wenden, die ihnen bisher zugutehalten, dass sie den Krieg durch den erzwungenen Truppenabzug des Westens beendet haben, oder die aus Angst jetzt noch stillhalten oder sich anpassen.

Letzteres ist nicht neu. Millionen Menschen leben bereits seit Jahren in Gebieten unter Talibankontrolle und hatten gar keine andere Wahl. „Es gibt keinen offenen Protest gegen die Taliban“, berichtete der Analyst Sahil Afghan Ende 2020, „aber nicht, weil es nichts zu beschweren gibt, sondern weil die Leute es für zu gefährlich halten.“

Sollten die Taliban dem Wunsch nach mehr Offenheit nachgeben, könnte das zu Brüchen im eigenen Lager führen. Immerhin hatte ihr Führer Hebatullah Achundsada angekündigt, dass es bei der Umsetzung der Scharia „keine Kompromisse“ geben werde. Fraglich ist, wie viele Mitglieder selbst der inneren Talibanführung diesen Kurs mittragen. Sogar unter ihnen wird immer wieder die Forderung nach Wiedereröffnung aller Mädchenschulen laut. Gleichzeitig aber folgen sie bisher weiter der Parteilinie, die Einheit der Talibanbewegung nicht zu kompromittieren.

Kleine wirtschaftspolitische Erfolge

Während die Taliban vor 2001 die Versorgung der Bevölkerung weitestgehend den UN und NGOs überließen, sind heute immerhin Ansätze einer Wirtschaftspolitik erkennbar. Ihre Minister verhandeln mit Vertretern Washingtons und der Weltbank über die Freigabe der eingefrorenen afghanischen Staatsguthaben. Mit dem deutlich gesteigerten Kohleexport nach Pakistan, das die weltweite Brennstoffkrise hart traf, ist ihnen ein kleiner Coup gelungen. Allerdings stagniert der Handel mit den anderen Nachbarn wie Iran und Zentralasien.

Dafür bekämpfen die Taliban im eigenen Land die Korruption wirksamer als die alte, westlich gestützte Regierung und erhöhten so die Staatseinnahmen aus Steuern und Handel, seit das Kriegsende wieder mehr Wirtschaftstätigkeit erlaubt. Und sie lassen dem aktiven Privatsektor freien Raum, der neben der agrarischen Subsistenzwirtschaft in allen kriegsbedingten Krisen der letzten 40 Jahre das Überleben der Bevölkerung sicherte. Dort dürfen Frauen weiterhin arbeiten.

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Denn auch der Ausschluss der Frauen aus der Arbeitssphäre ist keineswegs total. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) ging die Zahl der arbeitenden Frauen seit dem vorigen August zwar um 21 Prozent zurück – doch hätten damit noch immer vier von fünf der früher arbeitenden Frauen weiter ein Einkommen. Dem Privatsektor lassen die Taliban offenbar freie Hand, solange Frauen nicht mit Männern im selben Raum arbeiten. Die meisten Frauen sind laut ILO im Textilgewerbe beschäftigt. Viele arbeiten auch bei Privatbanken.

Den Taliban zufolge arbeiten sogar die meisten der zuvor bei Regierungsstellen beschäftigten 120.000 Frauen wieder. Westliche Jour­na­lis­t:in­nen bestätigen dies für technische Abteilungen etwa des Finanzministeriums. Allerdings ist unklar, ob die Taliban auch jene Frauen zählen, die sich nur einmal pro Woche an ihrem Arbeitsplatz zum Einschreiben melden müssen, um weiterhin ihr Gehalt zu bekommen, wie Schugufa* der taz erzählt, die in Herat bei der Stadt arbeitet.

Enorm hohes Verteidigungsbudget

Die Hälfte des Talibanbudgets fließt laut dem Wirtschaftsmagazin The Economist allerdings in den Bereich Verteidigung, obwohl sich das Regime nur marginalen inneren und keinen äußeren Bedrohungen gegenübersieht. Die Talibanführung muss ihre Kämpfer weiterhin bezahlen, denn sie kann sie nicht demobilisieren, weil die schrumpfende Wirtschaft sie nicht absorbieren kann. Der Gesamtetat von umgerechnet 2,6 Milliarden US-Dollar ist schon mit einem Defizit von 500 Millionen belastet. Offenbar hoffen die Taliban, das Loch durch erhöhte humanitäre Gelder und Entwicklungsgelder zu stopfen.

Bisher dominiere bei den Taliban „noch die Ideologie über Pragmatismus“, wie der afghanische Journalist Fazelminullah Qazizai schreibt. Doch wie bereits während der ersten Herrschaft der Taliban kommt ihre Religionspolizei Amr-bil-Maruf kaum hinterher, alle Verbote durchzusetzen. Allerdings kann niemand in Afghanistan sicher sein, den Häschern nicht doch in die Arme zu laufen.

Ob und wann ihre Führung begreifen wird, dass der Ausschluss von Frauen und Mädchen aus weiten Bereichen des öffentlichen Lebens mit der Welt des 21. Jahrhunderts nicht zu vereinbaren ist, ist unklar. Woher Ärztinnen und Lehrerinnen kommen sollen, wenn der weibliche Nachwuchs aus den Universitäten ausbleibt, ist ihr Geheimnis.

Trotzdem sitzen die Taliban ein Jahr nach ihrer erneuten Machtübernahme mangels einer organisierten Opposition vorerst fest im Sattel. Afghan:innen, die mit offenem Widerstand nicht ihr Leben riskieren wollen, bleiben zwei Optionen: das Land verlassen oder sich anpassen und etwas persönlichen Spielraum bewahren. So wie Schah Gul und ihre Freundinnen, die sich zwar verhüllen, aber nicht so, wie die Taliban es verlangen. Ihr Bruder in Bamian, so erzählt Schah Gul der taz, schloss sich unterdessen der Taliban-Moralpolizei an: „Zögernd, weil es keine anderen Jobs gibt.“

Mitarbeit: Sayeda Rahimi, Kabul

* Die Namen der interviewten Frauen wurden zu ihrem Schutz verändert

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