„Was, 1.000 Peso mehr als gestern?“

Die Geldentwertung in Argentinien ist derzeit in einem Monat so hoch wie in Deutschland in einem Jahr. Viele fühlen sich an die Zeit der Hyperinflation erinnert

Immer weniger Kaufkraft: Argentinische Pesos an einem Geldautomaten in Buenos Aires Foto: Cristina Sille/reuters

Aus Buenos Aires Jürgen Vogt

Argentiniens Inflation ist nicht zu bremsen. Im Juli betrug die Inflationsrate 7,4 Prozent im Vergleich zum Vormonat, teilte die Statistikbehörde Indec am Donnerstag mit. Vor 20 Jahren hatte es letztmals einen höheren Preisanstieg gegeben. Zum Vergleich: In Deutschland wird mit einer derartigen Preissteigerungsrate für das ganze Jahr 2022 gerechnet.

Inflation ist für viele Ar­gen­ti­nie­r*in­nen keine Unbekannte. Dennoch steht Mutter Mariel mit ihrer Tochter verblüfft vor dem Schuhregal: „Was, 1.000 Peso mehr als gestern?“ Der Verkäufer zuckt mit den Schultern. Ja, über Nacht habe es wieder Preisänderungen gegeben. Wie Mariel geht es derzeit vielen. Die Preissprünge fallen immer heftiger aus und kommen in immer kürzeren Abständen.

Seit der Jahrtausendwende pendelt die jährliche Inflationsrate zwischen 10 und 35 Prozent, seit 2019 liegt sie über 50 Prozent. Für das laufende Jahr wird mit einem Anstieg auf 90 Prozent gerechnet. Durch den rasanten Kaufkraftverlust drohen 20 Prozent der 47 Millionen Ar­gen­ti­nie­r*in­nen, in die Armut abzurutschen. Deren monatliches Familieneinkommen pendelt zwischen umgerechnet 350 und 500 Euro, knapp über der Armutsgrenze. Doch auch die Mittelklasse leidet unter der Geldentwertung. Zudem will der neue Wirtschaftsminister Sergio Massa jetzt die Strom- und Gastarife anheben. Im Gegenzug sollen die Subventionen, mit denen die Tarife seit zwei Jahrzehnten eingefroren sind, gekürzt werden. Inzwischen verschlingen sie über 11 Milliarden Euro, wegen weltweit gestiegenen Energiepreise wird diese Summe 2022 sonst noch höher ausfallen. Damit niemandem die Versorgung gekappt wird, garantiert die Regierung immerhin Sozialtarife. Wer weiter subventionierten Strom und Gas bekommen will, muss einen Antrag stellen.

Um die Inflation zu dämpfen, hob die Zentralbank am Donnerstag den Leitzins auf 69,5 Prozent an. Während sie auf der einen Seite mit der Ausgabe von Billionen Peso das chronische Defizit im Staatshaushalt über die Notenpresse finanziert, versucht sie auf der anderen Seite, die überbordende Peso­menge mit immer höheren Zinsen abzusaugen. Dass die Finanzierung des Defizits mit der Notenpresse der stärkste Infla­tions­treiber sein könnte, wird heruntergespielt. Schon kursieren Witze aus der Zeit der Hyperinflation: „Als ich in den Laden ging, kostete der Liter Milch 100 Pesos. Als ich ihn aus dem Kühlfach nahm, waren es 150, an der Kasse habe ich dann 200 Pesos bezahlt.“ Ältere erinnern sich noch gut an die Jahre 1989 und 1990, als die Infla­tions­ra­ten in den Tausenderbereich schossen. Um die Rent­ne­r*in­nen zu beruhigen, sollen sie zusätzlich zur gesetzlichen Mindestrente von 165 Euro in den kommenden drei Monaten je 23 Euro Inflationsausgleich bekommen. Die Inflation sorgt bereits für Unruhen. Eine Vorahnung davon konnte Wirtschaftsminister Massa in der Nacht zum Donnerstag bekommen, als rund 1.000 Menschen aus Protest gegen die Armut vor seinem Ministerium campierten.