Tanzperformance „Navy Blue“: Der Blues war der Motor

Mit ihrer neuen Choreografie „Navy Blue“ eröffnet Oona Doherty das Sommerfestival auf Kampnagel und tourt damit weiter nach Berlin.

Portrait von Oona Doherty vor Stadtlandschaft

Möchte ihr Stück „Hope Hunt“ gern in Gefängnissen aufführen: die irische Choreografin Oona Doherty Foto: Luca Truffarelli

Anmut? Ja, tatsächlich, es liegt etwas Anmutiges, etwas Verletzliches und Zartes unter den rauen und abrupten Bewegungen, die Oona ­Doherty selbst tanzt und für andere choreografiert. Sie schimmert durch wie etwas, das versteckt und geschützt werden muss, um nicht gefährdet zu sein in jener Welt, der ihre Charaktere ausgesetzt sind.

So kann man die irische Choreografin tanzen sehen in einem Video in der Tate ­Britain. Dorthin hatte sie der Videokünstler Mark Leckey vor drei Jahren für eine Performance in seine Ausstellung eingeladen, die einem Ort seiner Jugend galt, einem Treffpunkt von Kids unter einer Brücke der Autobahn M53.

Fliegen wollen und fallen, herumgeschleudert werden wie von einer Energie, die größer ist als sie selbst, in den Flow kommen und abrupt herausgeworfen werden: In Oona Dohertys Bewegungssprache in diesem Solo scheint sich die Erfahrung sozialer Härte eingeschrieben zu haben, ein Immer-wieder-ausgebremst-und-zurückgeworfen-Werden.

Tanzperformance „Hope Hunt“

Und so war es auch in einem ihrer bisher erfolgreichsten Stücke, „Hope Hunt“. Im zugehörigen Video bildet eine Vorstadtstraße bei Tag und bei Nacht die Kulisse für die Soli eines jungen Mannes und einer jungen Frau. Die Kamera fokussiert auf ihre Verlassenheit, die Glieder schlenkern, die Körper taumeln, Wut und Mangel sind im Spiel. Zwischen den Solos gibt es eine lange Kamerafahrt über einen Schrottplatz, ein symbolisches und ambivalentes Bild.

„Navy Blue“, Eröffnung Sommerfestival Kampnagel, 10.–13. 8.2022, Hamburg; beim Festival Tanz im August, 18. und 19. 8.2022, Haus der Berliner Festspiele

Kann es doch einerseits als Warnung verstanden werden, mit unserem Ressourcen verschwendenden Lebensstil an ein Ende gekommen zu sein; und andererseits ist der Rausch der Geschwindigkeit und das Abhauenwollen in dem Bild gegenwärtig und damit womöglich genau das, wovon die jungen Protagonisten in „Hope Hunt“ träumen.

2020 war sie mit „Hope Hunt“ auf Kampnagel in Hamburg zu Gast; dieses Jahr wird sie dort am 10. August das Sommerfestival eröffnen mit „Navy Blue“, einer Uraufführung. Eine Woche später ist sie damit zum Festival Tanz im August in Berlin eingeladen. Denn seit die Nordirin letztes Jahr den Silbernen Löwen der Tanzbiennale in Venedig erhielt, handelt man sie als einen Jungstar der Tanzszene.

Wir sind in Hamburg verabredet, und auf dem kurzen Weg vom Probenraum auf Kampnagel zu einem Café erzählt sie von ihrer kleinen Tochter, anderthalb Jahre alt, die jetzt eine Woche von ihrem Freund, eine Woche von ihrer Mum, eine Woche von einem Babysitter in Hamburg betreut wird, während Oona Doherty mit ihrem Ensemble probt.

Tanzperformance „Navy Blue“

„Navy Blue“ ist ihre erste Show als Mutter. Aber nicht nur das. Es ist auch ihre erste Produktion mit zwölf Tän­zer:in­nen. Es erfüllt ­Doherty mit Stolz, für zwei Jahre, während das Stück tourt, deren Arbeitgeberin zu sein. Neu ist auch, dass sie in „Navy Blue“ klassischer Musik folgt, dem 2. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninow, vor mehr als 120 Jahren komponiert.

Oona Doherty spielt in ihren Arbeiten mit einem sozialen Realismus

Dass Journalisten vor der Uraufführung bei Proben zuschauen oder Ausschnitte sehen, möchte sie nicht. Aber sie erzählt bereitwillig über ihren Weg zu „Navy Blue“. Wie sie in einer Phase der Vereinsamung und Depression, als sie den Blues hatte, über die Farbe Blau zu recherchieren anfing, um sich selbst eine Aufgabe zu setzen, mit der sie sich aus dem Stimmungstief herausziehen wollte.

Wie die Geschichte der Farbe, des Handels mit den teuren Rohstoffen, das Blau in der Kunst, aber auch das Blau des Meeres und das Blau in den Uniformen der Navy, schließlich die Melancholie der „blauen Stunde“ sie in ihren Bann zogen. Es geht um eine Farbe, aber die Kontexte, in denen sie Bedeutung erlangt, sind vielfältig, reichen in die Geschichte und in die Konflikte der Gegenwart.

Weiter erzählt die Choreografin über die allmähliche Entwicklung einer Stückidee, wie sie während eines Lockdowns – allein im Studio, vieles war abgesagt – wenigstens für sich trainieren wollte, Ballett alter Schule, und sich dabei in die Musik von Rachmaninow verliebte. Und dann noch entdeckte, dass der Komponist dieses Konzert nach einer Schaffenskrise und depressiven Phase geschrieben hatte. Da schien was aufeinander zuzulaufen.

Tän­ze­r:in­nen aus Paris, London und Dublin

Für „Navy Blue“ arbeitet sie mit Tänzer:innen, die sie in Paris, London und Dublin gecastet hat, High-Level-­Professionals, die ihr, das sagt sie zumindest, etwas Angst machen. Also entwickelte sie die Szenen des Stücks in den meisten Zügen schon vor den Proben, um dort dann zu wissen, wie agiert werden soll. Denn drei Wochen Probenzeit sind nicht viel.

Um solch ein Projekt zu stemmen, sind viele Partner nötig, vier Festivals sind beteiligt und weitere Produzenten und Förderer. Das Überleben als Choreografin ist nicht einfach, auch nicht für eine angesagte Künstlerin wie Oona Doherty.

Wegen Rosaria, ihrer kleinen Tochter, will sie demnächst gerne ein Jahr Pause machen, aber wie das ökonomisch ausgeht, ist noch fraglich. Und sie zweifelt auch, ob sie in Nordirland, nahe Belfast, wohnen bleiben wird. Denn mit dem Brexit, den Einschnitten in der Kulturförderung sei es noch schwieriger geworden in einem Land, das keine eigene Tanzschule, keine Bühne für Tanz, keine eigene Company hat.

Sozialer Realismus

Dass Oona Doherty auch in „Navy Blue“ mit einem sozialen Realismus spielt, für den ihre bisherigen Arbeiten bekannt waren, kann ich dann doch noch an einem kleinen Ausschnitt sehen, der für den Trailer geprobt wird.

Zu einem bedrängenden Sound hört man eine Stimme eine Liste vorlesen, die Kalkulation des Budgets der Show, wie viele Tausend Euro für Equipment, Technik, Techniker, Kostüme, Tän­zer:in­nen, Reisekosten, Unterbringung, und so weiter veranschlagt werden, man hört die Zahlen in die Höhe klettern, während der Kameramann nah vor den Tän­ze­r:in­nen beginnt und sich langsam von ihnen entfernt. Deren Bewegungen beginnen auf engem, bedrängtem Raum in der Beklemmung und schaffen sich langsam da raus, ins Weite und Offene.

Unter großer Anspannung stehen die Körper in diesen Soli, es kostet sie Kraft, etwas abzuwehren, jenseits dessen sie sich erst entfalten können.

Working-Class-People

Eines der Dinge, die Oona Doherty umtreiben, ist die Frage, wie sie den Raum des Tanzes weiten kann, wie sie aus der ­Insider-Bubble kommt. Interessieren sich die Abgehängten, die Working-Class-People, deren Posen und Gestus sie in zurückliegenden Stücken beschäftigten, für Tanz? Oder überhaupt für Theater?

Ein Weg, diese Frage zu bearbeiten, ist, ihr Stück „Hope Hunt“ auch zur Aufführung in Gefängnissen anzubieten. Das hat schon mal geklappt, aber nicht ausreichend; sie würde es gern mit Workshops und einem nachhaltigen Angebot für die dort Festsitzenden kombiniert wissen. Vielleicht gelingt das nächstes Jahr in Mailand in einer Vollzugsanstalt, die dem Theater gegenüber aufgeschlossen ist – auch das ist noch eine Frage des Budgets.

Aber jetzt erst mal die Premiere bestehen von „Navy Blue“. Es sei wichtig für sie und aufregend zu erleben, was bei der Premiere passiert, was die Leute empfinden und denken, die ja alle ihre eigenen Erwartungen, ihre eigene Vergangenheit mitbringen.

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