Afghanische Ortskräfte der Bundeswehr: Die schlimmsten Tage meines Lebens

Unsere Autorin war Ortskraft in Kabul. Als vor einem Jahr die Taliban die Stadt eroberten, begann der Horror. Sie schaffte es nach Deutschland.

Eine Frau mit dunklen Haaren, die ihr Gesicht verdecken, steht im Profil mit rosa Shirt und Jeans

Für die Taliban war sie primäres Ziel. Heute lebt die Autorin in Deutschland Foto: Stefan Boness/Ipon

Mein Tag begann gut am 15. August 2021 in Kabul. Ich war voller Hoffnung: An diesem Tag sollte ich das Sorgerecht für meine beiden Kinder zugesprochen bekommen. Sie sind vier und acht Jahre alt, seit meiner Scheidung habe ich mich mit meinem Mann um sie gestritten.

Ich war auf dem Weg zum Gericht, als mich um 10 Uhr morgens die SMS eines Freundes erreichte: „Die Taliban kommen über die Autobahn aus Dschalalabad. In wenigen Stunden werden sie in Kabul sein.“ Mein Freund arbeitete für die Nato in Kabul, ich glaubte ihm trotzdem nicht und schrieb im Spaß zurück: „Du paranoider Soldat!“

Aber als ich das Gericht betreten wollte, kamen mir die Mitarbeiter entgegen und sagten, die Taliban hätten Kabul erreicht. Von einer Sekunde auf die andere brach Chaos aus.

Ort der Zombies

Kabul, diese lebendige Stadt, wurde zu einem Ort der Zombies: Büros und Geschäfte wurden geschlossen, Autos fuhren kreuz und quer, Menschen rannten zum Flughafen, in der Hoffnung, sie könnten entkommen. In ihren Gesichtern stand die Angst. Ich konnte nicht weg, ich wollte da bleiben, wo meine Familie ist. Ich fuhr nach Hause. Drei Stunden brauchte ich für den Weg, der sonst eine halbe Stunde dauert.

Meine Kinder waren bei ihrem Vater, ich lebte im Haus meiner Eltern. Wir waren wie paralysiert. Die Taliban zogen durch die Straßen – jene Männer, gegen die ich so lange gekämpft habe.

Ich bin Journalistin. Seit 2016 habe ich für die Bundeswehr gearbeitet. Meine Aufgabe war es, die Sicherheitslage im Norden Afghanistans zu beobachten und den deutschen und afghanischen Soldaten zu berichten. Ich war außerdem dafür zuständig, die Propaganda der Taliban auszuwerten. Ich habe Konzepte entwickelt, mit denen man den Fake News der Taliban begegnen kann. Konzepte, die verhindern sollten, dass Menschen die Propaganda der Taliban glauben.

Ich bin dafür bedroht worden, die Taliban haben mir Warnbriefe geschrieben. Einmal haben sie auf mein Auto geschlagen, weil sie meinen Ausweis darin gefunden haben. Sie haben einen Selbstmordattentäter vor mein Büro geschickt. Jedes Mal hatte ich Glück, mir ist nichts passiert.

Mit meinen Eltern im Haus versteckt

Das war beängstigend, aber ich wusste, dass die Bundeswehr mir beistehen würde, wenn mir etwas passieren würde. Aber dieses Mal, im August 2021, war es anders. Die internationalen Truppen waren dabei, Kabul zu verlassen.

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Die folgenden Tage wurden die schlimmsten in meinem Leben. Ich habe mich mit meinen Eltern in unserem Haus versteckt. Unser Plan war: Wenn die Taliban klopfen, würde mein Vater behaupten, er sei allein im Haus.

Ich rief all meine deutschen Kontakte an, ehemalige Kollegen bei der Bundeswehr, einen deutschen Journalisten. Auf einer offiziellen Evakuierungsliste stand ich zunächst nicht – weil ich nicht den richtigen Arbeitsvertrag hatte. Das Bawar Media Center, das Medienzentrum, in dem ich gearbeitet habe, wurde nicht von der Bundeswehr betrieben, sondern von einem externen Dienstleister. Als Ortskraft gelten aber nur Menschen, die direkt bei einer deutschen Institution angestellt waren.

Hilfe durch Reporter ohne Grenzen

Das hat sich im Laufe der Tage geändert, auch, weil es in Deutschland offenbar Druck gab. Hinter den Kulissen haben viele Menschen für uns lobbyiert, Reporter ohne Grenzen hat sich für uns eingesetzt, mein befreundeter Journalist hat seine Kontakte genutzt. Ich stand nun auf der Liste, aber wie sollte ich rauskommen?

Mehrmals bin ich mit meiner Familie zum Kabuler Flughafen gefahren. Der Weg dorthin war gefährlich: Wir mussten die Checkpoints der Taliban passieren, bei jedem hatten wir große Angst.

Als wir das erste Mal den Flughafen erreichten, standen wir vor US-Soldaten, die niemanden durchgelassen haben. Beim zweiten Mal hatte mich ein Mitarbeiter des Callcenters der Bundeswehr aufgefordert, dorthin zu fahren, aber ohne zu sagen, wie es dann weitergeht. Er war sehr unfreundlich am Telefon, hat nur gesagt: „Fahrt an den Nordeingang, so schnell wie möglich“, und aufgelegt. Ich hatte keine Wahl: Auch wenn unsere Hoffnung gering war, mussten wir es versuchen.

Als Frau war es besonders schwer

Am Flughafen sah es so aus, als stünden alle Einwohner Afghanistans dort. Durch die Menge zu kommen, war wahnsinnig anstrengend. Als Frau war es besonders schwer, von allen Seiten wurde ich belästigt.

Meine Eltern sind über 60 und nicht mehr gut zu Fuß. Plötzlich feuerte ein US-Soldat Tränengas in die Menge, wir gingen zu Boden. Alle Menschen liefen durcheinander, trampelten über meine Mutter. In diesem Moment habe ich alle Hoffnung verloren.

Für die meisten Menschen bin ich einfach nur eine Journalistin. Für die Taliban bin ich ein primäres Ziel: als eine Frau, die versucht hat, der Taliban-Propaganda etwas entgegenzusetzen. Ich war panisch in diesen Tagen.

In der Menschenmenge vor dem Flughafen ist mir klar geworden, dass sich die deutsche Regierung keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie sie jene lokalen Mitarbeiter evakuieren will, die ihr Leben für den deutschen Einsatz riskiert haben. Das Einzige, was die Bundeswehr in dieser gefährlichen Situation tat, war, ein paar Iraner in einem Callcenter zu beschäftigen, die uns anriefen und uns zum Flughafen schickten.

Der Vater meiner Kinder zeigte mir die kalte Schulter

Ich flehte meinen Ex-Mann an, dass er mir die Kinder geben würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, meine Tochter in einem Land aufwachsen zu lassen, in dem Frauen für Grundrechte wie Schulbildung kämpfen müssen. Aber für den Vater meiner Kinder kam das nicht infrage. Er drohte: Wenn ich die Kinder holen würde, würde er mich und meine Eltern bei den Taliban verraten. Er ließ sich nicht überzeugen. Die Kinder in Afghanistan zurückzulassen, war die schlimmste Entscheidung.

Die Bundeswehr rief mich wieder an und sagte, ich solle zum Flughafen kommen. Ich sollte das Wort „Glück“ auf eine Flagge schreiben. Ein Code-Wort. Die deutschen Soldaten würden mich dann durchlassen. Als wir ankamen, waren da aber keine deutschen Soldaten. Es war der Abend des 23. August, und dort standen nur britische und amerikanische Soldaten.

Die Bundeswehr hat 5.000 Menschen evakuiert, aber nur 30 Ortskräfte. Ich war eine von ihnen

Ich habe einen Freund, er ist Soldat bei den Briten. Ich wusste, dass er im Inneren des Flughafens im Einsatz war. Es war mitten in der Nacht, das Internet war ausgefallen, zum Telefonieren war es zu laut, ich schrieb ihm eine Nachricht. Er antwortete, ich solle einen weißen Pick-up-Truck suchen, dort würde er warten. Und tatsächlich: Dort stand er. Zwischen uns verlief nur ein Kanal. Meine Eltern und ich wühlten uns mit Taschenlampen durch das braune Wasser auf die andere Seite – und hatten es geschafft.

Ich habe meine Kinder zurücklassen müssen

Am 24. August saßen wir im Flugzeug nach Deutschland. Dicht gedrängt in einem Bundeswehrflugzeug, ich hatte nur einen Rucksack dabei. Wie viel Glück ich hatte, habe ich erst später verstanden. Die Bundeswehr hat in diesen elf Tagen im August gut 5.000 Menschen evakuiert, darunter aber nur 30 Ortskräfte. Ich war eine von ihnen.

Ich war erleichtert, aber gleichzeitig war mein Herz so schwer. Ich hatte meine Kinder zurückgelassen.

Kurz nachdem wir losgeflogen sind, explodierte am Kabuler Flughafen eine Bombe. Mehr als 200 Menschen sind gestorben, genau an dem Ort, an dem ich wenige Stunden vorher mit meiner Familie stand. In dem Kanal, durch den wir in der Nacht gewatet waren, sind die Leichen getrieben.

Mein Mann hatte die Macht über die Kinder

In Deutschland sind wir in einer Flüchtlingsunterkunft bei Düsseldorf untergekommen. Ich konnte mich nur schwer auf Deutschland einlassen, in Gedanken war ich bei meinen Kindern. Die Menschen um mich herum wussten das, viele haben mich sehr unterstützt in dieser schwierigen Zeit.

Im Januar 2022 sah es kurz so aus, als kämen meine Kinder nach Deutschland. Mein Ex-Mann hat in Kabul an der Uni gearbeitet. Die Technische Uni in Berlin hat die Evakuierung von Uni-Mitarbeitern unterstützt. Aber er hat sich dagegen entschieden. Lieber wollte er in einem Land leben, das von Extremisten regiert wird, als nach Deutschland zu kommen.

Aber das Leben in Afghanistan ist auch für ihn schwerer geworden. Er hat seinen Job verloren. Also entschied er doch, nach Deutschland zu kommen. Es gab nur ein Problem: Ich hatte die Pässe der Kinder. Es ist so gut wie unmöglich, in Afghanistan zurzeit Pässe zu beantragen.

Lang ersehnte Landung in Hannover

Ich hatte Angst, dass er mit seiner neuen Frau allein nach Deutschland kommen und die Kinder zurücklassen würde. Glücklicherweise fand ich einen Kollegen, der nach Afghanistan gereist ist. Er hat die Pässe mitgenommen und meinem Ex-Mann übergeben.

Am 20. Mai habe ich mit Freunden meinen Geburtstag nachgefeiert, da bekam ich die Nachricht: Mein Ex-Mann und meine Kinder sind in Hannover gelandet. Das war das beste Geschenk, das ich je erhalten habe. Ich habe mir sofort einen Anwalt gesucht und vor einem Familiengericht das Sorgerecht für meine Kinder erstritten. Jetzt endlich leben sie bei mir.

Wir haben eine Wohnung in einer deutschen Großstadt gefunden. Meine Eltern leben auch hier. Ich lerne Deutsch, meine Kinder gehen in die Kita und in die Schule. Wir fühlen uns wohl.

Wenn ich an Afghanistan denke, kann ich immer noch nicht verstehen, wie das Land so schnell kollabieren konnte. Wieso hat sich niemand den Taliban entgegengestellt? Wieso hat ­niemand gekämpft? Wo ist die ganze Kraft hin, die wir in das Land gesteckt haben? Was ist mit unserer Hoffnung auf Wohlstand und Frieden passiert? War die ganze harte Arbeit umsonst und jetzt ordnen wir uns wieder ­Männern unter, die Waffen über der Schulter tragen und aus Höhlen gekommen sind?

Darauf wird es wohl nie befriedigende Antworten geben.

Aus dem Englischen von Anne Fromm

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