ORTSTERMIN: VENUSTRANSIT UNTER ASTRONOMEN
: Himmelsereignis, mitessergroß

„Da! Da kommt sie!“, ruft ein Mädchen, als kurz vor fünf der erste orangefarbene Streifen der Sonne zu sehen ist

Ein leichter Wind streicht über die mit Kieseln verputzte Fassade. Der fast wolkenlose Hamburger Himmel ist nur leicht erhellt, als um vier Uhr ein knappes Dutzend Menschen in Windjacken und Schals geschäftig auf dem Dach des 70er-Jahre-Hochhauses herumwuseln. Eine junge Frau pustet in ihre Handflächen, bevor sie beginnt, an einem Rädchen an einem von vier großen Teleskopen zu drehen.

Auf der Plattform im 20. Stock des „Geomatikum“ der Hamburger Uni – dessen Betonbaustil Stephan Bakan vom darin untergebrachten Max-Planck-Institut als „Brutalarchitektur“ bezeichnet – wird an diesem Morgen der Venustransit beobachtet: Dabei schiebt sich die Venus zwischen Sonne und Erde und wird als kleiner schwarzer Fleck auf der Sonne sichtbar. Anders als bei einer Sonnenfinsternis ist dieses Ereignis mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Etwa alle 100 Jahre kommt es zum Venustransit, dann aber gleich zwei Mal, im Abstand von acht Jahren. Der nächste wird 2117 zu beobachten sein.

„Also nutzen Sie die Gelegenheit!“, ruft eine Frau in schwarzer Jacke mit Pferdeschwanz. „Sonst müssen Sie echt alt werden, um noch einen mitzuerleben.“ Auf der großen Kreuzung am Fuß des gut 80 Meter hohen Gebäudes krabbeln vereinzelt Autos vorbei wie Ameisen. Über der Stadt liegt noch Ruhe, die nur von den Vögeln und dem leisen Rauschen der Lüftungsanlage gestört wird. Die markanten Gebäude um uns herum – die „Mundsburg Towers“ jenseits der Alster, das Radisson-Hotel und der Fernsehturm – wechseln langsam von einem bläulichen Schimmer zum rötlichen Licht des frühen Morgens. Ein großer Mann mit langen Haaren klebt silberne Folie vorn an die Teleskope: Ohne diesen Schutz würde die Sonne dem Hindurchsehenden die Netzhaut verbrennen – und erkennen könnte er auch nichts. Eine Schutzbrille braucht heute auch, wer das Himmelsereignis mit bloßem Auge betrachtet.

Gut 20 Menschen laufen inzwischen auf dem Dach herum und fotografieren: Physikdoktoranden und -diplomanden von der Sternwarte sowie interessierte Gäste. Und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Meteorologie: Sie haben die Plattform zur Verfügung gestellt. In der Uni-Sternwarte hätte man den Horizont – und damit den Sonnenaufgang – nicht sehen können, wegen der Bäume.

„Da! Da kommt sie!“, ruft ein Mädchen, als kurz vor fünf der erste orangefarbene Streifen zu sehen ist. Alle stürmen an die Teleskope, aber der erste, der die Venus zu sehen bekommt, ist ein Fotograf. Auf seinen Bildern wirkt der mitessergroße Punkt vor der großen hellen Sonnenscheibe ziemlich mickrig. Tatsächlich ist die Sonne 38-mal so groß wie die Venus.

Hektisch schrauben die angehenden Astronomen an ihren Teleskopen herum. Ein wenig Neid liegt in den Blicken, die sie immer wieder auf die Gruppe werfen, die sich um den Fotografen schart. Um 20 nach fünf klatscht dann endlich auch eine Doktorandin in die Hände: „Wir haben sie! Wir haben sie!“ Sie hibbelt von einem Bein aufs andere und presst immer wieder das Auge auf das Okular. Sie kann gar nicht aufhören, die gute Nachricht kund zu tun.

Drei Schülerinnen stehen mit verschränkten Armen und zitternd neben dem Teleskop. Aber gehen wollen sie nicht. „Ist das toll! Ich will Astronomie studieren“, sagt eine von ihnen mit breitem Lächeln. Sie trägt ihre blonden Haare lang und hat die Lippen rot geschminkt.

Um halb sieben ist es taghell, und Sonne und Venus haben sich getrennt. In 105 Jahren treffen sie sich wieder.  SMW