Die deutsche Nationalhymne wird 100: Einigkeit und Recht und Freiheit

Bei feierlichen Anlässen wird sie zur Selbstvergewisserung gesungen. Vor 100 Jahren wurde das „Lied der Deutschen“ zur Nationalhymne erklärt.

Das deutsche Team singt im vollbesetzten Stadion bei der EM 2022 die Nationalhymne

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft singt bei der EM 2022 die Hymne Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll in einer nationalen Hymne – das gibt’s auf der Welt wohl nur einmal. Wo? Im selben Land, in dem zuletzt sogar im Großfeuilleton intensiv der Text einer Ballermann-Bums-Hymne erörtert wurde. Das Wort Ballermann gab es noch nicht, aber die Lust am Saufen und Rummachen, als ein gewisser Hoffmann von Fallersleben folgende Zeilen schrieb: „Deutsche Frauen, deutsche Treue / Deutscher Wein und deutscher Sang / Sollen in der Welt behalten / Ihren alten schönen Klang“.

So heißt es – zugegeben etwas altbacken rockenrollig – im „Lied der Deutschen“, das Friedrich Ebert als Reichskanzler in der Weimarer Republik vor einem Jahrhundert, am 11. August 1922, zur offiziellen Nationalhymne der Deutschen erklärte.

Es ist der Text der zweiten Strophe, die allerdings nicht mehr gesungen wird, weil nur die dritte.

Aber man stelle sich vor, sie würde. Zum Beispiel von den deutschen Fußballern bei der Weltmeisterschaft der Männer demnächst in Katar. Oder die Frauen hätten es bei ihrer gerade zu Ende gegangenen Europameisterschaft zum obligatorischen musikalischen Auftakt mitgesungen. Ein patriotisches und unter heutigen Gendergesichtspunkten bedenkliches Trinklied – das gäbe Twitter-Alarm.

Andererseits, vielleicht wäre es ja das perfekte Lied zum Image Deutschlands, so wie es jüngst beim G7-Gipfel in Elmau wieder dick aufgetragen wurde. Da hatte Bayerns Landesvater Söder Trachtenfiguren aufstellen lassen, damit man überall auf der Welt weiter denkt, ganz Deutschland sei faktisch Bayern. Also ein Land, in dem Mädels im Dirndl den Einwohnern beim Vieltrinken zu Diensten sind und wo zum G’suffa natürlich der Gesang gehört.

Ein Museum in Fallersleben

Warum die deutsche Nationalhymne nur noch aus der einen singbaren Strophe mit dem „Einigkeit und Recht und Freiheit“ besteht, kann man auch in einem kleinen Museum im Wolfsburger Ortsteil Fallersleben erfahren. Es ist der Geburtsort von August Heinrich Hoffmann, der das nach staatlicher Einheit und patriotischer Freiheit sehnende „Lied der Deutschen“ 1841 auf die Joseph-Haydn-Melodie „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ verfasste.

Hoffmann von Fallersleben, wie er sich später nannte, hat noch mehr berühmte Lieder geschrieben, zum Beispiel „Alle Vögel sind schon da“. Das ist in der Welt allerdings weniger bekannt, weil es nicht wie eben Nationalhymnen bei Fußballweltmeisterschaften und Olympischen Spielen gespielt wird. Eigentlich schade, zumal es gar nicht so abwegig wäre, denn Ähnliches gab es bereits.

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente zwar kein Kinder-, aber ein Karnevalslied als deutsche Hymne. Fallerslebens Lied war 1945 von den Alliierten verboten worden, weil die Nazis aus der Patriotenhymne mit der ersten Strophe einen stiefeltrittfesten Herrenmenschen-über-alles-Kracher gemacht hatten. Deshalb sangen die Einwohner in den drei Westzonen ab 1948 bei offiziellen Anlässen den rheinischen Karnevalshit „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“.

Im Jahr 1952 bestimmte Bundeskanzler Konrad Adenauer die dritte Strophe des „Liedes der Deutschen“ zum Text der noch heute gültigen Nationalhymne. Das wird im Fallersleben-Museum ebenso erzählt wie die Imagepolitur der Hymne durch die Fußball-WM 2006. Während des „Sommermärchens“ klemmten sich die Deutschen schwarz-rot-goldene Fähnchen an die Autos und schmetterten die Hymne bierselig beim Public Viewing mit. Der neue, ungezwungene Umgang mit ihr wird im Museum in einer eigenen „Schland“-Ecke dargestellt, samt schwarz-rot-goldenen Fanartikeln.

Auf einem Touchscreen sieht und hört man, wie die Nationalhymne von einem Rapper, einer Girl Group oder auch von einer Jodlerin interpretiert wird. Das fasziniert auch zwei kleine Mädchen, die mit der Oma da sind, weil sie am Tag zuvor ein EM-Spiel der deutschen Frauen sahen und gern wissen wollten, was für ein Lied die denn da gesungen hätten.

Das Projekt Hymnenmix

Was im Museum nicht vorkommt, ist das Projekt Hymnenmix, das der Westberliner Dietmar Püschel kurz vor der Wende anging. Der selbstständige Fernsehproduzent mit eigener TV-Studiohalle in Spandau war eines späten Abends 1987 in seiner Neuköllner Wohnung vorm Fernseher eingenickt. Als er aufwachte, lief die BRD-Hymne im Fernsehen (was damals noch zum Sendeschluss üblich war) und parallel die von Hanns Eisler komponierte DDR-Hymne („Auferstanden aus Ruinen …“) im Ostradio, das er ebenfalls an hatte. Erstaunt stellte Püschel fest, dass beide gut zueinander passten. Spontan entstand seine Idee, Text und Musik zu einer neuen Nationalhymne zu verschmelzen.

„Ich mochte Honecker nicht“, sagt der 75-jährige heute, „aber die DDR-Hymne fand ich moderner und vom Text damals überzeugend, so antikriegsmäßig und zukunftszugewandt.“ Deshalb aber gleich die Westhymne durch einen Ost-West-Mix ersetzen zu wollen? „Das Projekt habe ich nicht als Gaudi empfunden, ich wollte zeigen: Wir sind doch gar nicht so unterschiedlich, sogar in den Liedern.“

Das Arrangement der neuen Hymne, die in einem Studio in Lichterfelde aufgenommen wurde, schuf eine befreundete Klavierlehrerin. Am 4. Mai 1988 ging die Schallplatte per Post an den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, um wegen der Urheberrechte eine Veröffentlichungserlaubnis zu erbitten. Die Absage erfolgte prompt, was Püschel als Menetekel auffasste. Auf das Cover hatte er nämlich ein Mauergraffito gedruckt, das er als Botschaft an Honecker verstand: Dein Reich wird untergehen!

Honecker sah es offenbar anders und das Projekt war tot. Als dann der finale Akt des Untergangs der DDR im November 1989 begann, schoss dem Urberliner Püschel seine Idee sofort wieder in den Kopf. „Ich wollte mein Projekt unbedingt durchziehen.“ Nachdem er die Rechte von der Edition Peters in Leipzig nunmehr bekommen hatte, schickte er das DDR-Rundfunkorchester und den Rundfunkchor ins Studio des Funkhauses in der Nalepastraße. Weil ein ganzes Album zu füllen war, engagierte er unter anderem noch die Ostberliner Modern Soul Band für eine deutsche und englische Rockversion der Kombihymne. („Eine Erde für uns alle“ sowie „Touch of Freedom“).

Die Kosten betrugen etliche tausend D-Mark, und am Ende wurde es kein gutes Geschäft. „Die Leute hatten irgendwann den Kopf voller anderer Dinge. Mein Album hätte vor dem 3. Oktober 1990 in den Handel kommen müssen, danach war es einfach zu spät“, sagt Püschel. Da half auch nichts, dass alle relevanten Bundes- und Landespolitiker sie als Weihnachtspräsent bekommen hatten.

Der Referent von Kanzler Helmut Kohl schrieb, dass eine Entscheidung über eine neue Nationalhymne von einem gemeinsamen Parlament getroffen werden müsste. Dazu kam es jedoch nie. Die Beibehaltung des Deutschlandliedes als Nationalhymne war allein durch einen Briefwechsel zwischen Kanzler und Bundespräsident bestimmt worden.

Im Jahr 2018 gab es noch eine Petition an den Bundestag, die die Einführung der ehemaligen DDR-Hymne forderte – mit einem Textmix aus deren ersten beiden Strophen und der dritten Strophe des Deutschlandlieds. Die Antragsteller fanden die mehr „hoffnungsvoll und antreibend“ und nicht so einschläfernd und negativ behaftet wie die aktuelle Hymne. Die Petition scheiterte an allgemeinem Desinteresse.

Nico singt das deutsche Lied

Antreibend ist die jetzige Nationalhymne tatsächlich eher nicht, aber auch nicht einschläfernd. Jedenfalls nicht, wenn man sie covert, wie es Nico 1974 tat. Die aus Köln stammende Muse von Andy Warhol und Sängerin der Band Velvet Underground hatte damals auf ihrem Album „The End“ auch eine abgefuckte Version des Deutschlandlieds, angeblich als Antwort auf Jimi Hendrix’ Interpretation der amerikanischen Nationalhymne.

Hierzulande kam sie eher schlecht an. Als Nico auf der Tour zum Album ihr „Deutschlandlied“ mit allen drei Strophen auf deutschen Konzertbühnen sang und es den RAFlern Ulrike Meinhof und Andreas Baader widmete, flogen Bierflaschen.

Cool geblieben war dagegen der damalige Bundespräsident Roman Herzog, als er bei seinem Brasilienbesuch am 23. November 1995 in Porto Alegre empfangen wurde. Ungerührt lauschte er der Kapelle der örtlichen Polizeiakademie, als sie für ihn „Auferstanden aus Ruinen“ intonierte.

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