Alles im privaten Bereich

FOTOGRAFIE Wilhelm Schürmann ist vor allem als Kunstsammler bekannt. Dass er außerdem ein begnadeter Fotodokumentarist ist, lässt sich jetzt in Köln entdecken

Während die Küchen schlicht ausgestattet sind, zeichnen sich die guten Stuben durch allerhand Nippes aus

VON MARKUS WECKESSER

Am Anfang stand die Fotografie. Bevor Wilhelm Schürmann international als Sammler und Vermittler von zeitgenössischer Kunst bekannt werden sollte, arbeitete er als freier Fotograf. Inzwischen werden die wenigen Publikationen aus dieser Zeit zu Höchstpreisen gehandelt. Trotzdem ist das fotografische Werk Schürmanns bislang nur wenig bekannt. Eher ist es so etwas wie ein Geheimtipp. Das könnte sich nun ändern.

Mit der Ausstellung „Wegweiser zum Glück“ präsentiert die Kölner SK Stiftung 180 Schwarz-Weiß-Bilder, die zwischen 1979 und 1981 in Dortmund-Marten entstanden sind, in dem Stadtteil, in dem der 1946 geborene Wilhelm Schürmann aufgewachsen ist. Die Aufnahmen der Steinhammerstraße geben Einblick in einen kleinbürgerlichen Kosmos, der trotz seiner unverkennbaren Verortung im Ruhrgebiet exemplarisch für bundesrepublikanische Befindlichkeiten und Lebensformen steht. Anders als Gabriele und Helmut Nothelfer, die während öffentlicher Großveranstaltungen ikonische Momente fotografierten, richtet Schürmann seinen Blick meist auf den privaten und halbprivaten Bereich. Als er nach dem Studium mit 32 Jahren in sein altes Revier zurückkehrte, um dort zu fotografieren, kannte er viele der alten Bewohner noch gut. Eben diese Vertrautheit und Herzlichkeit vermittelt sich in den Bildern. Zugleich bewahrte die zeitliche Distanz den Fotografen davor, nostalgisch Rückblick zu halten.

Im souveränen Gesamtgefüge der Serie wirken indes Porträts wie jenes vom Taubenzüchter Willi Rackowitsch keineswegs klischeehaft. Überhaupt wird der Ruhrgebietskontext nur indirekt angedeutet. Etwa anhand einer Schautafel, mit der ein Arzt den Bergleuten unter seinen Patienten die Lungenfunktion erklärt. Die Bilder von leerstehenden Ladenlokalen oder vom Abriss des alten Güterbahnhofs verweisen zwar auf den Strukturwandel der Region, aber sie sind nicht erklärtes Thema. Stattdessen konzentrierte sich Wilhelm Schürmann auf das Charakteristische einer Straße und seiner Bewohner. Ausgang seiner visuellen Erkundungen war das Haus Steinhammerstraße 117, in dem die Familie des Fotografen lebte und in dem der Onkel einen Schreib- und Spielwarenladen inklusive Lotto-Totto-Annahmestelle betrieb.

Gediegene Interieurs

Anfangs überließ sich Schürmann mit der Kleinbildkamera dem situationistischen Dérive, dem sich viele seiner Motive verdanken. So entdeckte er in der Gesäßtasche eines Lotto-Kunden eine Broschüre, die nun der Kölner Ausstellung den Titel gibt. Später verwendete Schürmann Motivlisten, um sich systematisch vorzuarbeiten. Den zufälligen und oft humorvollen Situationen im öffentlichen Raum stehen die gediegenen Interieurs im Privaten gegenüber. Während die Küchen eher schlicht ausgestattet sind, zeichnen sich die guten Stuben durch florale Tapeten, schwere Möbel und allerhand Nippes aus. Die Vielfältigkeit der Bildtypen täuscht jedoch darüber hinweg, dass sich der Fotograf auf der Steinhammerstraße in einem Umkreis von wenig mehr als 500 Metern bewegte. Mehr als 70 Einzelhändler, Handwerksbetriebe und Gaststätten machten die zwischen zwei Bahnlinien gelegene Durchgangsstraße zu einem lebendigen Soziotop. Heute existiert kein einziger Laden mehr. Regelrecht verrottet sei die Gegend, sagt Schürmann. Dabei ist er keiner, der klagt. Immer suchte er das Gespräch, sei es mit den von ihm Porträtierten oder mit Menschen, die sich wie er selbst mit Kunst auseinandersetzen.

Nach einem abgebrochenen Chemiestudium gründete Schürmann mit Rudolf Kicken 1974 eine der ersten Fotogalerien. Lange hielt er es als Händler indes nicht aus. Vielmehr war er an Inhalten, Wirkungsweisen und Erkenntnispotenzialen in der Fotografie interessiert. Mit Klaus Honnef kuratierte er 1979 die wegweisende Übersichtsschau „In Deutschland“ zu Aspekten zeitgenössischer Dokumentarfotografie und wurde schließlich als Professor für freie Fotografie an die FH Aachen berufen. Dennoch wandte sich Schürmann allmählich der bildenden Kunst zu und baute mit seiner Frau Gabriele eine bedeutende Sammlung mit Werken von Künstlern wie Martin Kippenberger, Franz West und Raymond Pettibon auf.

Wie als Sammler ist Wilhelm Schürmann bereits als Fotograf vorgegangen. Einerseits folgte er seiner Intuition, andererseits trug er gezielt Motive zusammen. Beide Strategien führten zu einem an Assoziationen reichen und diskursiv angelegten Gesamtgefüge. Höchste Zeit für eine Wiederentdeckung.

■ Wilhelm Schürmann: „Wegweiser zum Glück. Bilder einer Straße 1979–1981“. Bis 12. August 2012, SK Stiftung Kultur, Köln, Katalog: Hatje Cantz, 49,80 Euro