Zum Tod von Uwe Seeler: Ein Popstar seiner Zeit

Uwe Seeler war Hamburger, uneitler Herrscher über die Fußballherzen des Landes – und einer der besten Kicker sowieso. Erinnerung an einen ganz Großen.

Uwe Seeler auf den Schultern seiner Fans

Publikumsliebling: Uwe Seeler nach seinem Abschiedsspiel im Hamburger Volksparkstadion 1972 Foto: dpa

Donnerstag am späten Nachmittag wurde die Nachricht bekannt, und vermutlich begannen in den gleichen Sekunden, wo auch immer in Deutschland, kleine archäologische Expeditionen in den persönlichen Bildarchiven: Uwe. Uns Uwe. Uwe Seeler. Anek­doten begannen zu kursieren. Eine geht so: Da sagt ein Mädchen von acht Jahren, Anke, auf dem Schulhof im Hamburger (damals noch) Arbeiterquartier Schanzenviertel – es waren die späten sechziger Jahre –, sie werde nach Harksheide fahren, ein Autogramm von Uwe Seeler holen. Die anderen Kinder lachten: Höhö, was die redet, Angeberin! Aber sie fuhr auf dem Fahrrad los, 22 Kilometer weit.

Tags darauf sagte sie, tja, sie habe geklingelt am Haus von Uwe Seeler, und eine freundliche Frau habe aufgemacht, sich den Autogrammwunsch angehört, habe gesagt, „komm mal rein, min Deern“, habe sie ins Wohnzimmer geführt, wo Uwe Seeler zufällig auch saß und dann auf eine Karte mit seinem Bild seine Unterschrift setzte. Garantiert selig, ja, beseelt, wird sie die Strecke zurückgefahren sein. Wusste sie es doch!

Das war er, das war das Paar Uwe und Ilka Seeler: nahbar, ohne Allüren, kein Bling-Bling, kein „wie feine Leute tun“, Bodyguards, hohe Grundstückshecken, kein „wenn Schiet wat ward“, wie es im Norddeutschen so heißt, also wenn aus Scheiße was wird, das Arbeiterkind in der Hautevolée ankommt. Auf – für heutige Wahrnehmungsverhältnisse der Promis auch im Sport – beängstigende Weise ist dieser Mann, besser: hat dieses Paar ungeeignet sein wollen für die Zeichen des sogenannten Aufstiegs.

„Uns Uwe“ wurde er genannt. Und war immer ein Volxheld, so Pop wie Elvis Presley in Bremerhaven 1958 (und nicht mehr in Graceland). Uwe Seeler, ein Idol? Ein Wort, ohne dass sich einem bei diesem Wort borstig Zweifel einstellen. Ob er denn gar keine Fehler gemacht habe, wurde er mal gefragt. Tja, antwortete er, vielleicht hätte es den Swimmingpool nicht gebraucht – ungenutzt meist, langweilend. Stattdessen: zunächst ein Käfer als Auto, Urlaub in Dänemark.

Der Mythos Uwe Seelers lebte von diesem biografisch beglaubigten Fundament: Vater Erwin Seeler Hafenarbeiter, Fußballer, Arbeitersportbewegung im proletarischen Stadtteil Rothenburgsort, Mutter Anny Hausfrau, Umzug nach Eppendorf und zum Hamburger SV, den Walter Jens, Rhetorikprofessor in Tübingen, selbst Hamburger, mal als „Klassenverrat“ geißelte. 1936 Uwes Geburt.

Lehre, Fußball, HSV, aber nicht Inter Mailand

Mit seinem Bruder Dieter wurde er das, was damals üblich war: Straßenfußballer. Ausbildung zum Speditionskaufmann, seit 1946 beim Hamburger SV, bis zum Karriereende Anfang der Siebziger nie ein anderer Verein, Mit 16 erste Einsätze bei den Erwachsenen, immer als Stürmer, Torjäger, Knipser, Antreiber, auf dem Platz dirigierend, das heißt, anmeckernd, mal auch gröber, aber nach Aussage vieler Mannschaftskollegen nie böse oder giftig, auch auf dem Platz „ruhig, kameradschaftlich und offen“, wie eine Klassenlehrerin ihn mal beschrieb. Mal hinfallen auf Asche, Rasenplätze gab es ja kaum, aufgeschrammte Knie – kein Jammern bitte, so war es damals üblich. Die Härte jener Jahre, kein Thema, Zähne zusammenbeißen und weiter.

Und dann die Geschichte mit Inter Mailand, deren Trainer Helenio Herrera Uwe Seeler nach dessen erster WM 1958 in Schweden unbedingt nach Italien holen wollte, mit wirklich sehr viel Geld. Mehr als eine Million Deutsche Mark plus einiger „Nebengeräusche“. Die Verhandlungen sollen über drei Tage gelaufen sein – am Ende sagte Uwe Seeler ab: Er wollte lieber nicht gehen. Stattdessen wurde er Norddeutschland-Generalvertreter von Adidas, der Fußballschuhfirma aus dem Fränkischen – nicht als Grüßaugust, sondern konkret im Mercedes umherfahrend wie ein Handelsvertreter.

Gerhard Krug, Teamkamerad

Alle Leidenschaft auf den Punkt gebracht, über zwei Halbzeiten, und viel Training vorher und nachher

Das Geld sei ihm zwar wichtig, aber die Summe nicht entscheidend gewesen. Mehr als ein Steak könne er nicht essen, mehr als ein Haus nicht bewohnen. Vermutlich aber war es eine Taktlosigkeit, an welcher der Handel scheiterte. Die italienische Delegation an der Alster im Hotel Atlantic hatte Uwe Seelers Frau Ilka nicht miteingeladen. Ob sie präberlusconiesk dachten, Frauen seien ohnehin nur Bunga-Bunga? Das sei ein Fehler gewesen, sagte sie neulich in einer NDR-Doku, die hätten sie nicht auf der Rechnung gehabt, nicht mal höflicherweise eingeladen.

Ilka Seeler aber war immer die Frau mit ihm. Sie war immer an seiner Seite, immer. Eine große Liebe, im Übrigen gegen den Rat von Uwe Seelers Mutter, die über die ehemalige Handballerin urteilte, „die kann ja nicht mal Wasser kochen“, worauf es womöglich beiden auch nicht wirklich angekommen ist.

Kleiner Wohlstand in Harksheide

Gerhard Krug, der als HSV-Spieler dabei war, als Uwe Seeler 1960 seine einzige deutsche Meisterschaft errang und später Journalist unter anderem bei der Welt war, erklärte die Ernsthaftigkeit von Uwe Seelers Spiel mal so: „Wir trainierten viermal in der Woche. Uwe Seeler trainierte da schon mehr, spielte ja auch international. Er nahm das schon sehr viel ernster. Wir hatten so ein bisschen Lust am Kicken, fanden das eigentlich ganz witzig, wollten aber alle Lehrer werden.“

Das war der Unterschied: Fußball war für Uwe Seeler so gut wie alles. Krug mit Blick auf die Vita seines Mannschaftskameraden: „Uwe Seeler steht für den vorsichtigen Aufstieg. Alle Leidenschaft auf den Punkt gebracht, über zwei Halbzeiten, und viel Training vorher und nachher, immer besser werden.“ Aber er habe immer „vorsichtig bleiben wollen, Stück für Stück, nie alles auf einmal“. So wie das Haus der Seelers in Harksheide (heute Norderstedt) am HSV-Trainingsgelände auch langsam wuchs, nie die eigenen Verhältnisse überstrahlend.

Überhaupt dieses Harksheide. Ein Städtchen gleich nach Hamburg, Traum­eigen­heim­re­vier vieler, die in den sechziger und siebziger Jahren zum bundesdeutschen Wohlstand kamen, als Angestellte mit etwas besseren Gehältern, mit einer eigenen Party­kultur, mit James Last als Bandleader für die Bedürfnisse nach Lockerheit und viel Grün. Familie Seeler war die Ikone dieser Kultur bundesdeutscher Ordnung.

Dass Uwe Seeler aber in dieser Mittelschichtssuppe nicht aufging wie ein lasches Stück Porree, er immer, wie es halboriginell immer heißt, ein „Original“ blieb, ein nahbarer Nachbar ohne Jägerzäune im Gemüt, muss an dieser Solidität seines Charakters, aber auch hörbar an seinem Sprachklang gelegen haben: Der war, der ist Hamburgisch, wie es kaum noch jemand lernt. Heute ein exotischer Sound – als sei er nicht vor einem Jahrhundert noch der an der Elbe übliche gewesen.

Mit Uwe Seeler ist einer nicht mehr am Leben, dessen Namen man 1966 auf dem Balkon des Frankfurter Römer rief, als die DFB-Mannen aus England nach der 2:4-Niederlage – mit diesem umstrittenen Tor der Engländer zum 3:2 in der Verlängerung, den Jubel ihrer Anhänger entgegen nahmen. Sie riefen nicht „Deutschland, Deutschland!“, kein Hochmut der restlichen Fußballwelt gegenüber, sondern: „Uwe, Uwe!“ Uwe Seeler – das war Popkultur, ohne dass diese damals so aussah.

Der Enkel spielt bei Union Berlin

Er war die Figur, die der deutsche Fußball nach dem WM-Gewinn 1954 brauchte, um die Nazizeit mit einer neuen Persona hinter sich zu lassen: ein cooler Bürger, der keinen Thron beanspruchte und doch auf vielen Platz zu nehmen hatte. Der Rest sind Fakten. Niemals Weltmeister, eine Meisterschaft, ein Pokalsieg (1963), DFB-Ehrenspielführer, der erste. Viele entscheidende Tore für die Nationalmannschaft, viele Verletzungen, immer wieder gekommen. Dreimal Fußballer des Jahres, Großes Bundesverdienstkreuz. Knapp drei Jahre mit mäßiger Bilanz Präsident des HSV. Bei Heimspielen seines Klubs (fast) immer im Stadion.

In den letzten Jahren drückte er, drückte seine Frau hauptsächlich einem Spieler die Daumen, ihrem Enkel Levin Öztunali, der bei Union Berlin in der Bundesliga spielt. Im Übrigen konnte er flachsen, mal’n Spruch raushauen, auch mal einen bösen. Sein Mannschaftskamerad Charly Dörfel rief mal, wenn er weiter so meckert, schlägt er die Flanken höher, als Uwe Seelers Kopf sie erreichen kann – worauf er zur Antwort hörte: „So hoch, wie ich steigen kann, kannst du nicht flanken.“ Uwe Seelers schönste Tore waren solche mit dem Kopf, eines auch bei der WM 1970 gegen England mit dem Hinterkopf – und das bei verhältnismäßig zwergigen 1,70 Meter Körperhöhe.

Er hatte Sinn für Witz, mochte Olli Dittrichs „Ditsche“, war auch mal in einer Gastrolle als „Schildkröte“ zu sehen, nahm sich, so Uwe Seelers Vorstellung des Wunschbilds von sich selbst, „nicht so wichtig“. Und so sprachen Uwe und Ilka Seeler vor Kurzem im NDR:

„Uwe: Ich glaube, wir sollten ruhig und gelassen sein und genießen, was wir haben. (…) Wir können uns nicht beschweren. Ilka: Ich habe es mir genauso vorgestellt, wie es gelaufen ist. Ich bin glücklich damit. Heute passiert nicht mehr so viel. Die aufregende Zeit ist vorbei. Nur dass wir Levi [Enkel Levin] zugucken und ihm die Daumen drücken. Also, wir sind noch im Spiel, Dicker! Uwe: Ja, noch sind wir im Spiel. (lacht).“

Er war und bleibt ein Großer.

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