Taxi Lwiw–Berlin

Unser Autor besucht nach 29 Jahren wieder die deutsche Hauptstadt. Er kann sich das nur leisten, weil Krieg ist und er dieses Tagebuch schreibt. Hier macht er mit Hippies Musik

Alik Olisevych war im taz-Gebäude. Wegen der Corona­einschränk-ungentrifft erdort kaum Menschen Foto: privat

Von Alik Olisevych

Alik Olisevych, 1958 in Lwiw geboren, war einer der Gründer der Hippie-Bewegung in Lwiw. Lange Haare, westliche Musik und nonkonformes Denken machten die Hippies verdächtig, sie galten den KP-Funktionären in Kiew und Moskau als „bourgeoise Nationalisten“, „antisowjetische Agitatoren“ oder einfach als „geisteskrank“. Vor die Musterungskommission trat Alik mit wehendem Haar und Kriegsbemalung. Die Kommission hielt ihn für „wehrunwürdig“ und wies Alik in die Psychiatrie ein. Nach einem Monat kam er wieder frei und schlug sich als Nacktmodell an der Kunstakademie durch. Seit den achtziger Jahren arbeitet er als Beleuchter im Opernhaus. Über Alik und das Leben der Hippies von Lwiw erzählt Andrej Kurkow in seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“ (Diogenes 2014).

Donnerstag, der 7. Juli

Heute ist Jan-Kupala-Tag. Nach orthodoxem Kalender ist es der Tag von Johannes dem Täufer. An diesem Tag feiern Ukrainer, Russen und Weißrussen Sommersonnenwende mit alten slawischen Bräuchen. Seit 1993 gibt es zu Jan Kupala in den Karpaten auch ein großes Hippie-Treffen am Wasserfall Schypot. Es ist seitdem ein großes Happening geworden, Tausende Hippies kommen aus allen Ecken zusammen. Woodstock muss so ähnlich gewesen sein. Die Hippies reisen aus der ganzen Ukraine an, aus Weißrussland, Russland, dem Baltikum, viele auch aus Polen. Der Höhepunkt ist in der Nacht zum 7. Juli, dann wird ein riesiger Holzhaufen angezündet. Ich war auch immer in den Bergen mit dabei. Dieses Jahr habe ich aber nichts gehört. Das Treffen ist ausgefallen. In Wolowez, sechs Kilometer vom Wasserfall entfernt, sind vor Kurzem russische Raketen eingeschlagen.

Es gibt eine Legende, die dort in den Karpaten erzählt wird. In der Nacht vor Jan Kupala soll sich die gelb blühende Weinraute, auf Ukrainisch Tscherwona Ruta, in eine purpurrote Blüte verwandeln und wenn eine junge Frau sie entdeckt, wird sie für immer ihre Liebe finden. Ein ukrainischer Schlager besingt die „Tscherwona Ruta“. Er kam 1968 heraus und wurde das bekannteste, auf ukrainisch gesungene Lied in der Sowjetunion. Es stammte vom 19-jährigen Wolodymyr Iwasjuk, der zu einem der bekanntesten Schlagerproduzenten der Sowjetunion wurde. Doch „Tscherwona Ruta“ brachte ihm kein Glück. Im April 1979 fand man Iwasjuk erhängt in einem Wald bei Lwiw, ganz in der Nähe, wo ich heute wohne. Schnell erklärte die Miliz, dass es nur ein Suizid sein konnte. Zu seiner Beerdigung kamen mehr als zehntausend Menschen. Mit Iwasjuk starb einer der Begründer der ukrainischen Popmusik, die sich bis heute aus Motiven aus den Karpaten speist. Die Erfolge von Ruslana und dem Kalush Orchestra, die beide den Eurovision Song Contest gewonnen haben, sind ohne Iwasjuk nicht denkbar. 2014 hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft die Umstände seines Todes noch einmal untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Iwasjuk bereits tot war, als man ihn erhängte. Mitarbeiter des KGB sollen ihn zuvor ermordet haben.

Freitag, 8. Juli

Ich fahre mit einem Kleinbus nach Berlin. Es gibt inzwischen viele dieser Busse, die wie Shuttle regelmäßig zwischen Deutschland und der Ukraine pendeln. Sie schaffen Hilfsgüter in die Ukraine und nehmen Flüchtlinge aus der Ukraine mit – oder Reisende wie mich. Es kostet nicht sehr viel Geld und der Fahrer hat mir versprochen, mich direkt vor dem Haus meines Freundes Thomas abzusetzen, so wie ein Taxi von Lwiw nach Berlin.

Im Opernhaus sind vier Wochen Theaterferien, ich bin 63 Jahre alt und kann ins Ausland reisen. Die Reisegesellschaft im Kleinbus, Leute aus dem Osten der Ukraine, war ehrlich gesagt enttäuschend. Sie sprachen nur über sich und was sie in Deutschland bekommen oder organisieren können. Dass unser Land gerade angegriffen wird, spielte dabei keine Rolle und alle haben Russisch gesprochen. Das macht mich inzwischen misstrauisch.

Meine Muttersprache ist Ukrainisch, ich spreche auch fließend Russisch, Polnisch und Serbisch. Wenn aber Menschen aus der Ukraine nicht Ukrainisch sprechen, werde ich stutzig. Die Frage, welche Sprache ich spreche, ist keine Nebensächlichkeit mehr. Menschen, die aus Russland kommen und Russisch sprechen, haben im Namen Russlands unser Land überfallen und ich kann nicht verstehen, wie man da noch Russisch sprechen kann, als wäre nichts passiert. Es ist inzwischen eine Antwort auf die Frage: Wo gehörst du hin?

Ich kenne viele Menschen aus dem Osten der Ukraine, die sich seit 2014 ganz bewusst für Ukrainisch entschieden haben, obwohl sie Russisch als Muttersprache hatten. Es sind aber eben nicht alle. Und es macht mich nachdenklich, wenn ich von den vielen Kollaborateuren höre, die in den besetzten Gebieten mit den Russen zusammenarbeiten. Wolodymyr Selenskyj hat gerade eingeräumt, dass es viele Kollaborateure gibt. Tickt der Osten der Ukraine nach wie vor anders? Irgendwie empfänglicher für russische Hegemonie?

Ich hoffe nicht. Tag für Tag sterben Soldaten für eine unabhängige Ukraine und jeden Tag gibt es auch in Lwiw Totenmessen.

Mittwoch, der 13. Juli

Ich bin seit fünf Tagen in Berlin und heute war ich in der taz. Ich war in den Redaktionsräumen, im großen Konferenzraum und natürlich auf dem Dach. Thomas, der dieses Tagebuch aufschreibt, hat mich im neuen Gebäude herumgeführt und mir alles gezeigt. Nur eines konnte er mir nicht erklären: Warum das taz-Gebäude so menschenleer ist, obwohl doch jeden Tag eine Zeitung gemacht wird.

Leider war auch das Café zu. Zum Schluss habe ich dann aber noch tazler getroffen – Claudia vom Empfang und Wolf, den Chef des Betriebsrates. Mit ihm habe ich lange geredet. Ich selbst bin seit vielen Jahren im Personalrat der Lwiwer Oper und ich habe von übelsten Machenschaften erzählt, die in den neunziger Jahren auch am Opernhaus vorgekommen sind. Eine Kollegin wurde mit dem Tode bedroht. Den Rechtsstreit, um den es ging, den haben wir aber gewonnen.

Vor 29 Jahren war ich das erste und bis jetzt einzige Mal in Berlin. Der Prenzlauer Berg hat mir damals sehr gefallen. Es ist schon merkwürdig, dass erst ein Krieg ausbrechen musste, damit ich wiederkomme. Woran das liegt?

Es fahren inzwischen fast täglich Shuttle-Busse zwischen Lwiw und Berlin, die Hilfsgüter, Flüchtlinge und Reisende transportieren. Ich habe für die Fahrt nach Berlin von Haustür zu Haustür 100 Euro ausgegeben. Dass ich das überhaupt bezahlen kann, hat auch mit diesem Tagebuch zu tun. Da ich seit März einer der Autoren bin und Honorar erhalte, konnte ich überhaupt erst darüber nachdenken, mal wieder nach Deutschland zu kommen. Mit meiner Rente und dem Gehalt aus dem Opernhaus würde ich nicht weit kommen.

Jetzt bin ich Autor für ein Kriegstagebuch und bin in Deutschland. Ich wünschte, es gäbe einen anderen Anlass.

Donnerstag, der 14. Juli

Das Hippie-Treffen in den Karpaten ist ausgefallen, aber am Rande von Berlin habe ich dann im Kleinen so etwas Ähnliches erlebt. Mein Freund Emil, der seit vier Jahren in Berlin lebt, hatte mir von einem Festival in Kesselberg bei Erkner erzählt, das am Wochenende stattfand. Das habe ich leider verpasst. Aber heute bin ich mit Emil und Sergej hinausgefahren. Ich bin begeistert!

Die Frage, welche Sprache ich spreche, ist keine Nebensächlichkeit mehr

Es ist ein unglaublich ruhiger Ort, die Leute kommen aus Deutschland, aus Polen, sie leben dort mit Kindern oder allein, sie leben in Häusern, in Bauwagen oder Zelten, sie hängen ab oder sie sind kreativ, aber eines verbindet sie alle – diese große Harmonie mitten im Wald. Dabei hat in Kesselberg einmal die Stasi regiert. Von hier aus lief der Funkverkehr mit den Spionen in aller Welt. Und nun gibt es dort ein ökologisches Kulturzentrum.

In der Dance Hall haben wir spontan Musik gemacht – Emil am Klavier, Sergej an der Bassgitarre, ein Engländer hat sich an die Drums gesetzt und ich habe getanzt. Für einen Augenblick konnten wir alles vergessen. Emil kommt aus Russland, hat jüdische und ukrainische Wurzeln, er lebte zehn Jahre in Israel und ist seit vier Jahren in Berlin. Sergej kam als Flüchtling aus Kiew nach Berlin, er stammt aus Cherson, seine Heimat ist seit März besetzt. Und ich bin aus Lwiw für ein paar Tage zu Besuch.

Warum ist nicht alles so friedlich und entspannt wie in Kesselberg? In Winnyzja sind heute bei einem russischen Raketenangriff Dutzende Menschen gestorben, auch Kinder.

Donnerstag, der 21. Juli

Ich bin wieder in Lwiw. Gestern war mein erster Arbeitstag im Opernhaus. Wir haben die Technik für die erste Vorstellung vorbereitet. Danach haben wir noch zusammen etwas gegessen und getrunken. Ich habe viel erzählt über meine Reise nach Deutschland. Ich habe viele von den taz-Aufklebern verteilt, auch ein paar Stofftaschen.

Auf der Rückreise habe ich im Bus Katja kennengelernt. Sie ist 17, kommt aus Charkiw und lebt seit April in Deutschland. Jetzt will sie noch einmal nach Charkiw, wo ihre Eltern leben. Katja ist in Lwiw umgestiegen und nach Charkiw weitergefahren. Sie wird ihre beiden Katzen nachholen. Die Fahrt ist ziemlich gefährlich. Gern würde sie auch ihre Eltern mitnehmen. Ein paar Wochen war es in Charkiw relativ ruhig, aber heute gab es dort einen Angriff auf einen Markt. Die Eltern weigern sich jedoch. Es ist verrückt, aber sie wollen nicht weg.

Nach Gesprächen protokolliert von Thomas Gerlach

Auf dieser Seite schreiben abwechselnd verschiedene Ukrai­ne­r:in­nen darüber, wie sie den Krieg erleben.