Entpolitisierung ist Trumpf

„Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“: Gilla Cremer liest im Polittbüro aus den Briefen, die Gudrun Ensslin aus der Isolationshaft an ihre Geschwister schrieb

Entpolitisierungen und Umdeutungen von historischen Ereignisse und Motiven der beteiligten Menschen erleben gerade einen Hype, vor allem dann, wenn es um die 60er und 70er Jahre geht. Derzeit ist die Rote Arme Fraktion, die RAF im Visier. Der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Philipp Reemtsma, sieht in den RAF-Mitgliedern um Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof nur noch egomanische, machtbesessene Sektenmitglieder und (Selbst-)Mörder, deren politische Erklärungen und Aktionen lediglich dazu dienten, eine Anhängerschaft um sich zu sammeln. Nicht um ein politisches Anliegen, sondern um die „Lebensform RAF“ sei es gegangen, meint Reemtsma.

Schon Anfang der 70er Jahre sprachen die Staatsorgane lieber von der „Bader-Meinhof-Bande“ und nicht von der RAF, denn Bande klang von vornherein kriminell, während Rote Armee Fraktion mit der Befreiung vom Faschismus in Verbindung gebracht werden konnte (und sollte). Insofern ist der Versuch, der RAF ein politisch ernst zu nehmendes Anliegen abzusprechen, nicht neu und reiht sich ein in die Bemühungen, die 68er und ihre Nachfolger zu psychologisieren und von dem zu entkoppeln, was sie an Kritik gegen die damalige Bundesrepublik Deutschland vorbrachten. Die Radikalität dieser Linken soll sich nachträglich wie das überdrehte Verhalten psychisch gestörter Menschen lesen.

Dabei ist die RAF-Gründer-Generation ein einfacher Gegner: Natürlich lebten Bader, Ensslin und die anderen unter extremen Bedingungen, im Untergrund, auf der Flucht, ständig in Gefahr, verhaftet oder erschossen zu werden und später unter den Bedingungen von Isolationshaft. Ihnen deshalb aber die „Lust an der eigenen Gefährlichkeit“ als wesentliches Motiv zu unterstellen, mutet recht grotesk an. Denn wenn es stimmt, dass damals psychisch gestörte Desperados wie Andreas Bader herumliefen und aus reiner Großmannsucht Menschen erschossen, braucht man sich nicht so intensiv dem damals herrschenden politischen Klima in Deutschland zu widmen: dem gesellschaftlichen Schweigen in den 60er Jahren über das Dritte Reich und der Tatsache, dass zahlreiche Alt-Nazis als angesehene Bürger Ministerpräsidenten, Abgeordnete, Richter, Chefmediziner oder Hochschulprofessoren in Amt und Würden waren.

Reemtsma will mit seiner Argumentation glauben machen, dass Baader, Ensslin und Co ihren Kampf mit dem Krieg, den die USA im Namen von Freiheit und Demokratie in Vietnam führten, nur deshalb politisch begründeten, um ihrer „Lebensform RAF“ die Wege zu ebnen. Vielleicht ist es daher sinnvoll mit eigenen Augen auf das zu schauen, was die RAF und ihre Mitglieder gewesen sein könnten und was sie wollten. Zum Beispiel Gudrun Ensslin, deren Briefe aus dem Gefängnis heute Abend von der Schauspielerin Gilla Cremer im Polittbüro gelesen werden. Die Briefe stammen aus den Jahren 1972/73 und sind an die Geschwister Christiane und Gottfried Ensslin gerichtet. Briefe, die unter den Bedingungen der Isolationshaft zwischen Hungerstreiks und Zensur verfasst wurden, und in denen Gudrun Ensslin über familiäre und private Dinge schreibt, aber auch über ihre politischen Gedanken und Analysen, über Marxismus und bürgerliche Gesellschaft.

Im Rahmen der Lesung werden die Geschwister Christiane und Gottfried Ensslin, die die Briefe ediert haben, auch von ihren damaligen Erlebnissen berichten. Die kritischen Nachfragen besorgt Veranstalter Thomas Ebermann. Dirk Seifert

„Gudrun Ensslin: „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“, Hamburg 2005, 200 S., 15 Euro. Lesung: heute, 20 Uhr, Polittbüro, Steindamm 45