Nach der Hafenexplosion im Libanon: Mahnmal in Flammen

Im Beiruter Hafen brennt seit zwei Wochen ein Weizenlager, nun droht der Einsturz. Der Regierung wird vorgeworfen, ihr komme das Feuer gerade recht.

Das abgebrannte Silos am Beiruter Hafen

Es schwelt: Das Silo am Beiruter Hafen, aber auch Gesellschaft und Politik im Libanon Foto: Hassan Ammar/ap

BEIRUT/FRANKFURT taz | Jeden Tag bröckeln mehr Stücke aus der zerfetzten Betonwand des Weizenlagers am Hafen von Beirut. Ab und an steigt schwarzer Rauch auf. Immer wieder brennt es – bei Hitze und schwüler Luft entzündet sich der nach der Explosion am 4. August 2020 darin verbliebene Weizen. Das Mahnmal der Beiruter Hafenexplosion brennt – und weckt bei den Ein­woh­ne­r*in­nen der Stadt traumatische Erinnerungen. Vor knapp zwei Jahren explodierte nach einem Feuer am Hafen falsch gelagertes Ammoniumnitrat in einer der dortigen Lagerhallen. Heute stehen die Überreste der Silos neben einem großen, wassergefüllten Krater.

Die libanesische Regierung sagt, das Feuer mit Wasser zu löschen könne den Brand noch verschlimmern. Innenminister Bassam Mawlawi befahl der Feuerwehr am Donnerstag, es trotzdem zu versuchen. Regierungschef Najib Mikati befahl den Feuerwehrleuten und dem freiwilligen Zivilschutz wiederum, sich zu ihrer eigenen Sicherheit zurückzuziehen. Am Wochenende schickte die Armee einen Hubschrauber, der Wasser über dem Komplex abwarf.

Wasser treibe den Fermentationsprozess an und könne die Silos, eine Reihe hoher zylindrischer Behälter aus Beton, so noch schneller umkippen lassen, bestätigte Emmanuel Durand. Der Schweizer Bauingenieur ist Teil eines von der libanesischen Regierung beauftragten Ex­per­t*in­nen­teams zum Silo.

Die Familien der Opfer der Hafenexplosion kritisieren die gewollte – und für den Staat kostengünstige – Zerstörung. Sie betrachten die Silos als Teil eines Tatorts. Der Sprecher der Familien der Opfer, William Noun, sagte der libanesischen Zeitung L’Orient Le-Jour, die Behörden behaupteten „fälschlicherweise, dass Studien gezeigt haben, dass die Struktur einsturzgefährdet sei. Deshalb nehmen wir an, dass sie mit dem immer wieder ausbrechenden Feuer versuchen, alle Beweise zu vernichten.“

Die Weizensilos sollten eigentlich denkmalgeschützt werden

Die Frage, wie mit den Silos umzugehen ist, ist zu einer nationalen Debatte angewachsen. Die Zivilgesellschaft setzt sich für ihren Erhalt ein, während die Regierung sie abreißen möchte. So versuchte die libanesische Vereinigung der In­ge­nieu­r*in­nen und Ar­chi­tek­t*in­nen, den Abriss zu verhindern. Sie suchte nach Möglichkeiten, die Struktur zu verstärken.

Kulturminister Mohammad Mortada erklärte zunächst, den zerstörten Speicher auf die Denkmalschutzliste setzen zu wollen. Damit wäre es verboten, ohne Genehmigung des Kulturministeriums etwas an den Silos zu verändern. Den Vorschlag zog der Minister aber wieder zurück. Er nannte es eine „ökonomische Entscheidung“, die Struktur nun doch abzureißen, was die Regierung am 14. April genehmigte.

Der libanesische Informa­tionsminister Ziad Makari sagte, die Entscheidung sei aufgrund des Berichts einer libanesischen Ingenieurfirma gefallen. Diese warnte, der Beton könne bald zusammenbrechen. Weil der bankrotte Staat eine Reparatur nicht bezahlen kann, beschloss die Regierung also, die Silos abzureißen. Einen konkreten Zeitraum dafür gibt es allerdings noch nicht.

Davor, dass im Silo Brände ausbrechen könnten, wurde schon lange immer wieder gewarnt. In einem Café in Beirut sitzt die Architektin Gioia Sawaya und zeigt ein Video auf ihrem Handy. Darauf stapft sie durch zu Hügeln aufgeschichteten braunschwarzen Weizen, der sie wie Treibsand einsacken lässt. Das Video hat der Ingenieur Durand bei einem Besuch im Juli 2021 gefilmt. „Das ist zum Beispiel das Thermometer, mit dem wir die Temperatur des vergorenen Getreides gemessen haben: Es ging über 100 Grad Celsius“, erklärt Sawaya. Aus dem Getreide steigt im Video Rauch auf. „Der Geruch ist wirklich unerträglich. Man läuft über tote Vögel und Ratten. Sie fressen das Getreide, vergiftet durch das Ammoniumnitrat, und sterben“, sagt sie.

Im Gefängnis landeten nur ein paar Hafenarbeiter

Für viele Li­ba­ne­s*in­nen sind die zerstörten Silos ein von Weitem sichtbarer Beleg für die Nachlässigkeit ihrer Regierung und des gesamten politischen Establishments. Noch immer gibt es keinen Bericht der zur Aufklärung der Explosion eingesetzten Untersuchungskommission, zur Rechenschaft gezogen wurde kaum jemand. Im Gefängnis landeten ein paar Hafenmitarbeiter, aber keine Verantwortlichen.

„Die Silos waren wie eine Schutzmauer aus Beton und schirmten den westlichen Teil Beiruts von der Explosion ab“, sagt Sawaya. „Die Silos haben mehr für die Stadt getan als die Herrschenden.“ Als Architektin ist Sawaya an dem Bau und der Geschichte des Getreidelagers interessiert. „Ich fand es seltsam, dass es keine Dokumentation zum Bau des Silos gibt. Es erschienen viele Artikel nach der Explosion, aber keine Informationen darüber, wer sie wann, wie konstruiert hat. Also fing ich an zu graben.“

Im Online-Archiv der tschechischen Nationalbibliothek fand Sawaya ein Journal aus dem Jahr 1971, das sich mit dem Bau befasst. Weil es nur auf Tschechisch vorliegt, tippte sie es Wort für Wort ab und übersetzte es mit einem Onlineübersetzer. „Ich teile die Informationen gerne mit Ingenieur*innen, die sich für den Hintergrund der Silos interessieren“, sagt sie.

An einer Universität in Portugal hielt Sawaya im vergangenen Herbst einen Online­vortrag zu „posttraumatischem Urbanismus“. Statt die Stätte aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen, erklärt sie darin, könne ein Trauma mit deren Hilfe auch verarbeitet werden. Dazu gehöre etwa, die Silos in einen Ort der gemeinsamen Erinnerung zu verwandeln. Die Architektin hat dazu einen Vorschlag ausgearbeitet: Der fermentierende Weizen könnte gepresst, recycelt und so als neuer, biologischer Baustoff genutzt werden. Indem man das verschüttete Getreide entferne, würden außerdem neue Brände verhindert.

Aufklärung ist im Libanon selten

Die Silos sind ein Symbol für Korruption. Sie sind aber auch ein Mahnmal für die Verdrängung traumatischer Ereignisse. Mit Lethargie, Gleichgültigkeit oder Müdigkeit versuchen die Menschen im Libanon, die Grausamkeiten langjähriger Auseinandersetzungen zu überleben.

Aufarbeitung ist im Libanon selten: Schulbücher enden mit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1943, mit dem Krieg zwischen 1975 und 1990 beschäftigten sich viele kaum. Schätzungsweise 17.000 Menschen wurden damals entführt oder verschwanden. Nach 1990, während der Militärpräsenz Syriens im Land, wurden viele Bür­ge­r*in­nen in das Nachbarland gebracht und dort eingesperrt. Bis heute gibt es keine Bemühungen des Staates, ihren Verbleib aufzudecken, ihre Geschichten zu untersuchen. Der Vorschlag zu einer unabhängigen nationalen Kommission, die diese Fälle untersucht, ist fehlgeschlagen.

Ebenso unaufgeklärt bleiben über 30 politisch motivierte Morde. Der jüngste Fall: Am 4. Februar 2021 wurde Lokman Slim, Intellektueller und Kritiker der von Iran unterstützten libanesischen Partei und Miliz Hisbollah, erschossen.

Wahrheit und Gerechtigkeit zu fordern ist im Libanon ein politischer Akt. Die gegenwärtige Stimmung der kollektiven ­Amnesie ist von der politischen Elite gewollt. Denn eine gemeinsame Erinnerungskultur wäre wichtig für ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Stattdessen suchen sich die entlang der Konfessionen getrennten Parteien ihre Version der Geschichte aus, streuen Missgunst und Vorurteile.

Mit den brennenden Silos steht also viel mehr als ein Bau in Flammen: Es ist die letzte Hoffnung auf Aufarbeitung, Gerechtigkeit und Trauerbewältigung, die hier zerstört wird.

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