Organische Mechanik

Über 50 Jahre lang baute der Bildhauer Günter Haese sensibel reagierende poetische Gebilde aus Draht. In Hamburg ist derzeit eine Auswahl zu sehen

Sein Lebens­thema hat Haese schon Anfang der 1960er gefunden: „Minotaurus“ Foto: Walter Bayer © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; Courtesy Galerie Thomas, München

Von Hajo Schiff

Als ob der Ausstellungsaufbau noch nicht fertig wäre: Das Erste, was im Hamburger Ernst-Barlach-Haus zu sehen ist, wenn die Tür zum Jenisch-Park ins Schloss fällt, ist ein Haufen Holzkisten, wie unabsichtlich zu einer Skulptur arrangiert. Dieser Backstage-Einblick ist aber Absicht, denn der 1924 in Kiel geborene Bildhauer Günter Haese hat ziemlich kunstvoll für jede seiner fragilen Arbeiten gleich nach Fertigstellung eine eigene hölzerne „Wohnung“ angefertigt – die sind also fast schon Teil des Werks.

Am Anfang der künstlerischen Laufbahn Haeses und in der ersten Vitrine der eigentlichen Ausstellung stehen kleine, aber massig wirkende, formreduzierte Tierplastiken in der Art seines Lehrers Ewald Mataré, bei dem er von 1951 bis 1956 an der Düsseldorfer Akademie studierte und mit dem er dann auch zusammenarbeitete. Mataré war übrigens zeitgleich auch der Lehrer des drei Jahre älteren Joseph Beuys.

Die Ausstellung zeigt etwa 40 Arbeiten Haeses, darunter einen im Gesamtwerk einzigartigen, aus Eisen geschmiedeten, großen bösen Vogel, geschwärzt und äußerst aggressiv, ein Objekt aus den Fünfziger Jahren wie eine Abrechnung mit Kriegserinnerungen und allem Gefälligen in der Kunst. Zu sehen sind auch einige frühe Monotypien von 1959, als der junge Künstler Uhrenteile und Feinmechanikelemente noch nicht aufs Feinste verbaute, sondern collagierte und davon Abdrücke nahm.

Dabei hat er dann sein Thema gefunden: Seit 1962 bis zu seinem Tode 2016 baut Haese aus Draht von Messing und der stabileren Phosphorbronze in Gitter- und Kugelformen, mit Spiralfedern und Zahnrädchen, sehr handwerklich, wie ein Ingenieur im Goldschmiede-Format, seine sensibel reagierenden, goldschimmernden und poetisch ausstrahlenden Gebilde.

Dabei lief die Karriere Haeses sehr anders als bei den meisten Künstlern und Künstlerinnen sonst: Seine Arbeiten machten sofort einen so außergewöhnlichen Eindruck, dass ihm schon 1964 eine Einzelausstellung im Museum für Moderne Kunst in New York (MoMa) ausgerichtet wurde. Bei seiner ersten Ausstellung im Ulmer Museum stellte der brasilianische konkrete Maler Almir Mavignier, später Professor in Hamburg, den Kontakt zum MoMa her. Und so stand es überraschenderweise nicht am Ende, sondern am Anfang einer Karriere: Es war Haeses erst zweite Einzelausstellung in einem Museum überhaupt.

Im gleichen Jahr wurde seine filigranen „Raumzeichnungen“ auch auf der Documenta III gezeigt. Sie wurden in der Abteilung „Licht und Bewegung“ den Kinetikern der Gruppe „Zero“ zugeordnet. Doch damit haben sie nur wenig zu tun: Den Objekten wird keine externe Energie zugeführt, ihre Bewegung ist höchstens ein feines Vibrieren der leicht montierten, durch Federn und feine Gelenke verbundenen Teile. Und Gruppierungen waren Haese, der durchaus etwas Eigenbrötlerisches hatte, ohnehin ganz fremd: „Alles außerhalb meines Studios ist eigentlich unwichtig“, sagt der Künstler im ausstellungsbegleitenden Film.

Haeses Gebilde sollen nicht nach Arbeit aussehen, sondern wie gewachsen

Seine in geduldiger, teils monatelanger Arbeit erstellten filigranen Gebilde werden gelegentlich als „Paul Klee in 3D“ charakterisiert. Sie entstehen allerdings ganz und gar aus dem Machen, es gibt keine Vorzeichnungen oder Planskizzen. Sie sollen aber nicht nach Arbeit aussehen, sondern wie organisch gewachsen – und das sind sie in dem langsamen additiven Bauprozess in gewisser Weise auch.

Das geheimnisvoll Gewordene, nicht Gemachte unterstreicht Haese mit den meist mythischen Namen seiner Werke. Sie sind keine Abstraktionen von etwas in der Welt, keine Modelle von Natur oder Architektur, sondern etwas ganz Neues, Eigenes. Und doch bieten sie wie edle Wunderkammerstücke zahlreiche Assoziationen: Etwa fremdartige Maschinen oder aus reichen Fürstengräbern geborgene archäologische Schätze unklarer Bestimmung. Und im Wissen darum, dass Haese im Krieg Funker war, fällt manchmal eine Ähnlichkeit mit Satellitenschüsseln und Radarantennen auf. Zumindest im übertragenen Sinne bündeln sie Energie auf poetische Weise.

Alle Sonderausstellungen im Ernst-Barlach-Haus fordern immer auch zum Vergleich mit den Arbeiten des namensgebenden „Hausherrn“. Bei Barlach ist die Bewegungsspannung in der geschlossenen Form eingefangen und ausgedrückt. Bei Haese vibriert die Energie selbst bei kantig fester umrissenen Figuren zwischen Außenform und Binnenstruktur nicht nur aufgrund der Durchlässigkeit des Materials, oft auch ganz real durch feine Bewegungen der in labilem Gleichgewicht montierten Teile.

„Schwerelos. Günter Haese. Raumplastiken aus Draht“: bis 16. 10., Hamburg, Ernst Barlach Haus Jenischpark