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Die Vulva Jesu

In ihrem neuen Buch plädiert Elke Pahud de Mortanges für die Anerkennung queerer Menschen im Innenraum des Christentums

Leidend und würdevoll: Gabi, eine trans Frau aus Lima – aus der Serie „Virgenes de la Puerta“, 2014 Foto: Juan Jose Barboza-Gubo & Andrew Mroczek

Von Stefan Hunglinger

Gabys Hände ruhen auf den Oberschenkeln. Auf ihrem Bauch ist eine krumme Narbe zu sehen, sie trägt einen leuchtend weißen BH. Über dem Kopf der trans Frau aus Lima schwebt eine enorme Dornenkrone. Gaby blickt frontal in die Kamera, ihr Blick scheint eine Antwort zu verlangen.

Das neue Buch der Theologin Elke Pahud de Mortanges möchte eine solche Antwort geben. Ausgehend von der Fotografie Gaby aus der Serie Virgines de la Puerta von Andrew Mroczek und Juan José Barboza-Gubo, untersucht die Autorin die Rolle des Körpers in den Erinnerungskulturen des Christentums.

„Bodies of Memory and Grace“ ist ein durch und durch katholisches Buch. Denn es tritt an gegen das Sola scriptura, gegen die lutherische Textfixierung. „So richtig und so wichtig Schrift und Wort, Bibel und Texte sind“, schreibt Pahud de Mortanges in ihrem Vorwort, „so lassen sie uns doch allzu leicht vergessen, dass der primordia­le, eigentliche Gedächtnisort des Christlichen der Körper ist. Das Wort ist nicht Buch, sondern Fleisch geworden.“ Der Gott des Christentums: bereit zu bluten wie ein Mensch. Katholisch ist „Bodies of Memory and Grace“ auch in seiner weltumspannenden (griech. katholikós) Perspektive. Durch die Wahl Gabys als Leitmotiv ist ein gewisser Fokus auf den peruanischen – nicht gerade queerfreundlichen – Kontext gegeben.

Pahud de Mortanges beschreibt jedoch auch „individuelle und überindividuelle Formen des Embodiments“ in den christlichen Erinnerungskulturen der Levante, der Philippinen und Mexikos. Mit schweizerischer Selbstverständlichkeit setzen Autorin und Verlag bei ihren Le­se­r*in­nen Mehrsprachigkeit voraus. Denn viele Fachbegriffe, Zitate und Fußnoten sind im englischen, spanischen oder französischen Original abgedruckt.

De Mortanges arbeitet als außerplanmäßige Professorin in Freiburg und als Lehrbeauftragte in Fribourg in der Schweiz. Ihr Fach ist die Dogmatik, in diesem Buch tritt sie aber nicht als Dogmatikerin auf. Eher als Kulturwissenschaftlerin, für die Europa nicht weniger fremd ist, als die anderen Erdteile. Gerüstet mit den hermeneutischen Werkzeugen der Theo­re­ti­ke­r*in­nen Jan und Aleida Assmann sowie Judith Butlers, deckt Pahud de Mortanges weitgehend Unbekanntes aus der europäischen Christentumsgeschichte auf und lässt Bekanntes in neuem Licht dastehen.

Etwa, wenn sie die asketischen und selbstverletzenden Praktiken des Mystikers Heinrich Seuse oder der Franziskus-Gefährtin Klara von Assisi nicht als Abtötung – also Neutralisierung – des Fleisches liest, sondern gerade als intensive körperliche Erfahrung. Oder wenn sie Darstellungen der Seitenwunde Jesu in Gebetbüchern des 14. Jahrhunderts als Vulva interpretiert. Der Passionsleib Jesu: für Elke Pahud de Mortanges sprengt er die Gendergrenzen.

So wichtig Wort, Bibel und Texte sind. Der Gedächtnisort des Christlichen ist der Körper

Auf dem zügig beschrittenen Weg hin zur Gegenwart legt Pahud de Mortanges in ihrem reich bebilderten Buch auch noch bei der Kunst der Moderne einen Stopp ein. Sie vermag zu zeigen, wie Frida Kahlo, Marina Abramović und Alfred Hrdlicka christliche Körpermotive fortgeschrieben, adaptiert, performt und transponiert haben.

„Bodies of Memory and Grace“ mündet in einem Plädoyer für die Anerkennung queerer Menschen im Innenraum des Christentums. Denn schließlich will es Antwort geben auf das Leben, den Blick, die Narbe einer Person. Gabys BH ist weiß – in der christlichen Ikonografie die Farbe der Unschuld und der Jungfrau Maria. „Solchermaßen als Virgen und body of grace ausgewiesen, trägt sie jedoch nicht das Kind Jesus im Arm und stillt es. Nein, sie trägt über ihrem Haupt die Dornenkrone des erwachsenen und verhöhnten Jesus.“ Leidenswerkzeug und Zeichen königlicher Würde zugleich.

Für Pahud de Mortanges ist Gaby damit auch ein body of memory. Die Verkörperung einer „Erinnerung, die gefährlich ist und namentlich ein Stachel im Fleisch des hegemonialen Christentums“. „Bodies of Memory and Grace“ ist keine theologische Abhandlung im herkömmlichen Sinn. Es ist eine überraschende Spurensuche. Stachelig und vorwärtsgewandt.

Elke Pahud de Mortanges, „Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums“, TVZ Verlag, Zürich 2022, 238 Seiten, 26,90 EUR