Wahlchaos in Berlin: Zurück in den Wahlkampfmodus

Immer deutlicher wird das Ausmaß der Pannen bei den Wahlen im September. Die Debatte über mögliche Neuwahlen bekommt damit neue Brisanz.

Franziska Giffey steht in einer Schlange bei der Wahl 2021

Auch die damalige Spitzenkandidatin der SPD musste warten bei ihrer Stimmabgabe im September 2021

Seit einiger Zeit geht ein Gespenst um in der Berliner Landespolitik: Kommt es wegen der vielen Pannen bei den jüngsten Wahlen zumindest partiell zu Neuwahlen? Das Geraune darüber ist seit Mittwoch noch ein bisschen lauter geworden, nachdem die vom Senat im November selbst eingesetzte Ex­per­t*in­nen­kom­mis­si­on ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Und weil sich die Ampelkoalition am Donnerstag auf eine Wiederholung der Bundestagswahl in mindestens 400 der 2.300 Berliner Wahllokale verständigt hat, ist eigentlich klar: Berlin kann in Kürze wieder in den Wahlkampfmodus schalten.

Eigentlich sollte die 21-köpfige Ex­per­t*in­nen­kom­mis­si­on vor allem nach vorne schauen und herausarbeiten, was getan werden muss, damit sich ein Durcheinander wie am 26. September 2021 nicht wiederholt. Bei der damaligen Wahl von Bundestag, Abgeordnetenhaus und Bezirksparlamenten sowie beim Enteignen-Volksentscheid fehlten Stimmzettel oder wurden falsch ausgegeben; vielfach bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen auch noch nach 18 Uhr.

Doch die Kommission konnte ihre Arbeit ja nicht machen, ohne einen gründlichen Blick auf die Vorgänge vor und am Wahltag selbst zu werfen. Vor allem zwei Erkenntnisse dürften dabei die abschließende Bewertung der Pannen durch den Bundestag und die Gerichte nachhaltig beeinflussen. Zum einen wird dem damaligen Innen- und heutigen Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) eine Mitschuld an dem Desaster gegeben. Dessen Innenverwaltung hat die Aufsicht über die Durchführung der Wahlen: Das bedeute aber nicht nur nachträgliche Kontrolle, heißt es in dem Bericht, sondern auch „unterstützende Begleitung, sofern es um die Vermeidung von Rechtsverstößen geht“. Und das ist offensichtlich nicht passiert.

Denn anders als vielfach vermutet ist das Versagen bei Organisation und Ablauf der Wahl eben nicht auf das bekannte Mantra von „Berlin-kriegt-halt-nix-auf-die-Reihe“ zurückzuführen, sondern in guten Teilen durch Fehler in der politischen Führung begründet. So sei zwar bekannt gewesen, dass etwa Stimmzettel fehlerhaft aus der Druckerei geliefert wurden und dass es zu wenig Wahlurnen für die Vierfachabstimmung geben würde – es hatte aber keine Konsequenzen.

Auch wenn in einigen Wahlkreisen neu gewählt wird, haftet dem Ergebnis ein – anderes – Legitimitätsproblem an.

Zum anderen dürften – darauf wies Kommissionsmitglied Christian Waldhoff, Juraprofessor an der Humboldt-Universität, am Mittwoch hin – die unzumutbar langen Wartezeiten in Wahllokalen ein viel häufigeres Problem gewesen sein als angenommen. Bislang ging man von rund 10 Prozent der Wahllokale aus, weil dort auch nach 18 Uhr noch Stimmen abgegeben wurden.

Doch da schlicht zu wenig Wahlurnen vorhanden waren, seien „mit großer Wahrscheinlichkeit“ vielerorts Menschen von den Schlangen abgeschreckt worden. Wie viele, werde sich nie mehr klären lassen. Er sei gespannt, so Waldhoff, wie die Gerichte diesen Umstand bewerten.

Kritik vom Bundeswahlleiter

Ende Mai hatte der Bundeswahlleiter Georg Thiel dafür plädiert, dass die Bundestagswahl in sechs der zwölf Berliner Wahlkreise wiederholt wird. Es gehe bei den Pannen nicht um Einzelfälle, vielmehr habe es ein bisher einzigartiges systematisches Versagen der Wahl-Organisation gegeben. Die Einigung der Ampelkoalition, lediglich in 400 der 2.300 Wahllokale die Bundestagswahl zu wiederholen, dürfte deswegen noch nicht das letzte Wort in dieser Sache sein.

Die CDU/CSU-Fraktion spricht bereits vom Versuch der Ampel, das „Wahldebakel kleinzureden“ und zu „bagatellisieren“. Eine Wiederholung in diesem nur kleinen Umfang würde, so die Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages Daniela Ludwig zur taz, das Vertrauen in demokratische Institutionen bei den Bür­ge­r*in­nen eher noch weiter erschüttern als wiederherstellen.

Tatsächlich ist die Frage, in wie vielen Wahlkreisen die Abstimmung wiederholt wird, um die Legitimität der Wahl wiederherzustellen, ein zentraler Aspekt der Debatte. Bislang ging man auch in rot-grün-roten Koalitionskreisen davon aus, dass in einigen wenigen Wahlkreisen eine Wiederholung wahrscheinlich sei, weil dort angesichts eines sehr knappen Ergebnisses die Mandatsrelevanz hoch ist. Im Herbst oder Winter will der für die Einsprüche gegen die Wahlen zuständige Verfassungsgerichtshof darüber entscheiden.

Wenn aber, wie von der Ex­per­t*in­nen­kom­mis­si­on kritisiert, die Defizite etwa bei der Ausstattung der Wahllokale ein grundsätzliches Problem waren, ließe sich damit auch eine Wiederholung der gesamten Wahl begründen. Es wäre in diesem Fall sogar die demokratietheoretisch sinnvollere Variante.

Würde nur in einigen wenigen Wahlkreisen erneut gewählt, haftet dem Ergebnis ein – anderes – Legitimitätsproblem an: Die Wahlbeteiligung wird deutlich geringer ausfallen als im September 2021, der Wahlkampf sehr viel dezenter verlaufen, die Kan­di­da­t*in­nen müssen sehr viel härter um Aufmerksamkeit kämpfen, zudem hat sich die politische Ausgangslage seit September in vielerlei Hinsicht deutlich verändert. Am Ende ist es eine Teilwahl unter ganz anderen Bedingungen.

Ganz oder gar nicht

Betrifft eine solche Neuwahl nur ein, zwei, vielleicht drei Wahlkreise von Bundestag oder Abgeordnetenhaus, wäre die Beschränkung auf sie vielleicht noch gerechtfertigt. Sind es deutlich mehr oder ist davon, wie vom Bundeswahlleiter für die Bundestagswahl gefordert, gar die Hälfte Berlins betroffen, wäre eine nur partielle Neuwahl schlicht nicht fair, gleich und gerecht. Nur eine komplette Wiederholung mit einer intensiven öffentlichen Debatte im Vorfeld könnte dann für Ergebnisse sorgen, die auch von den Bür­ge­r*in­nen anerkannt werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.