Forschung für eine Welt ohne Barrieren: Behinderung anders gedacht

Das Hamburger Zentrum für Disability Studies und Teilhabeforschung untersucht, wie Inklusion gelingen kann. Nun läuft die Förderung aus.

Ein Fachwerk-Haus, davor steht ein Schild mit der Aufschrift "Rauhes Haus".

Ort der Teilhabeforschung: Das Rauhe Haus in Hamburg Foto: dpa / Ulrich Perrey

HAMBURG taz | Das Fortbestehen des Hamburger Zentrums für Disability Studies und Teilhabeforschung, kurz Zedis plus, ist bedroht: „Die letzte Förderzusage läuft Ende 2022 aus“, heißt es in einem Antrag der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Das ist auch deshalb so bedenklich, weil die Bedeutung dieser Forschungseinrichtung so wenig bekannt und ihre Lobby entsprechend klein ist.

Auf welche Weise sind Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft Risiken ausgesetzt, diskriminiert zu werden? Wo erfahren sie Benachteiligungen? Solchen Fragen geht das Zedis nach, sowie: Wie können Barrieren abgebaut werden? Entstanden ist das Zentrum 2005 an der Uni Hamburg, seit 2014 ist das Projekt an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie im Rauhen Haus angesiedelt.

Angeboten werden Seminare, eine Ringvorlesung, Tagungen, aber auch berufliche Weiterbildung. Eingeladen sind Menschen mit und ohne Hochschulabschluss. Studienleistungen werden mit einem „Disability-Kompetenz-Zertifikat“ nachgewiesen. Finanziert wird das Projekt von Senat und Nordkirche.

„Hamburg kann froh sein, dass es mit dem Zedis eine Institution gibt, die sich für eine Weiterentwicklung der Disability Studies einsetzt“, sagt Stephanie Rose, wissenschaftspolitische Sprecherin der Linksfraktion. Sie fordert, das Zentrum auszubauen, statt es einzusparen. Das Zedis selbst erinnert daran, dass sich die Vertragsstaaten in der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet haben, „die Teilhabe von Behinderung betroffener Menschen am Leben in der Gesellschaft“ zu erforschen.

„Behindert-Sein“ als konstruiertes Konzept

Die Disability Studies als Forschungszweig sind bewusst in Anlehnung an kritisch-emanzipatorische Forschungsperspektiven wie die Gender Studies entstanden. Nach christlicher Barmherzigkeit, Zwangsjacken-Zeitalter und paternalistisch bevormundender Eingliederung wird Behinderung seit den 1980er-Jahren anders gedacht.

Nicht zuletzt durch den Einfluss der machtanalytischen Überlegungen des französischen Denkers Michel Foucault zu Biopolitik und Diskursivität entstanden neue Forschungszweige. Die Disability Studies gehören zu ihnen, sie befreiten „den Behinderten aus seiner Objekt-Zuschreibung durch die Mainstream-Gesellschaft“, wie Georg Seeßlen in der Jungle World schreibt.

In diesem Denken wird „Behindert-Sein“ überhaupt erst durch Kultur und Gesellschaft erschaffen, die Spaltung zwischen „normal“ und „behindert“ wird als diskursiv entlarvt und dadurch dekonstruiert. In dieser Perspektive ist „normal“ ebenso ein konstruiertes Konzept wie „behindert“.

Mit der neuen Welle der Disability Studies, die vor allem im anglo-amerikanischen Raum an Universitäten gelehrt wurde, entstand in Deutschland Ende der 1970er-Jahre die radikale „Krüppelbewegung“. Der Begriff Behinderung verschleiert für uns die wahren gesellschaftlichen Zustände“, erklärte die vom Publizisten Franz Christoph und dem späteren Sozialstaatsrat Horst Frehe 1977 in Bremen gegründete erste Krüppelgruppe die Bezeichnung: „Durch die Aussonderung in Heime, Sonderschulen oder Rehabilitationszentren werden wir möglichst unmündig und isoliert gehalten. Ehrlicher erscheint uns daher der Begriff Krüppel, hinter dem die Nichtbehinderten sich mit ihrer Scheinintegration nicht so gut verstecken können.“

Auch wenn die Bewegung seitdem viel erreicht hat und die Disability Studies längst keinen Exotenstatus mehr besitzen, ist es bis zu echter Teilhabe noch ein weiter Weg. Ohne Forschung wird der nicht zu gehen sein. Die Linke fordert deshalb Planungssicherheit fürs Zedis. Der Senat solle gemeinsam mit dem Zentrum einen Plan entwickeln, „wie die Disability Studies als eigenständiger interdisziplinärer Studiengang an den Hochschulen institutionell verankert werden können“. Ein Aus des Zentrums, so Linken-Politikerin Rose, „wäre eine herber Rückschlag für alle, die für eine Etablierung der Disability Studies kämpfen“.

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