Berliner Lyriker im Interview: „Wenn kein Wort mehr stört“

„Tiefsee wie ein Krake der rückwärts auseinander stäubt“, heißt Michael Thieles erster Gedichtband. Über die Rolle von Zeit und Musik für seine Lyrik.

„Du kannst nicht alles, was du fühlst und denkst, in Worte, in Sprache übersetzen“: Michael Thiele Foto: Oliver Look

taz: Herr Thiele, kürzlich fand das 23. Poesie Festival Berlin statt. Haben Sie vielleicht eine Lesung besucht?

Michael Thiele: Ich war nicht dort, weil für mich die Lyrik in der privaten Lektüre tatsächlich keine große Rolle spielt. Ich lese neben Einzeltexten vielleicht ein oder zwei Gedichtbände im Jahr. Und wenn ich auf Lesungen gehe, dann wird dort meist Prosa gelesen.

Michael Thiele, 1984 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Publizistik und Philosophie in Berlin, Leipzig und Wien.

„Tiefsee wie ein Krake der rückwärts auseinander stäubt“ ist sein erster Gedichtband, er ist im Juni 2022 bei „Bartels & Bleil – Verlag für ästhetischen Widerstand“ erschienen. Paperback, 48 Seiten, 9 Euro.

Warum schreiben Sie Gedichte? Das erste entstand bereits 2007, wie ich aus Ihrem Buch erfuhr.

Ich schreibe Gedichte seit über 20 Jahren. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen komisch, aber ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und habe die Entscheidung getroffen: „Ach, jetzt will ich mal versuchen, ein Gedicht zu kreieren.“ Ich habe einfach angefangen und bis heute nicht damit aufgehört. Ich schreibe immer, und es ist keine … (überlegt) – Option oder Entscheidung. Es ist eher ein Müssen. Ich habe das Bedürfnis. Und solange das Bedürfnis da ist, muss ich schreiben.

Ich habe das gefragt, weil sich eine Überlegung anschließt: Welche Rolle spielt Zeit für Sie, für die Gedichte? Die aus Ihrem ersten Gedichtband „Tiefsee wie ein Krake der rückwärts auseinander stäubt“ sind zwischen 2007 und 2022 entstanden und weder zeitlich verortet noch chronologisch geordnet, richtig?

„Zeit“ ist ein Schlüsselbegriff. Das fällt mir auch selbst auf bei den Texten, an denen ich gerade arbeite. In fast jedem Text, den ich derzeit für meinen zweiten Gedichtband schreibe, taucht das Wort „Zeit“ auf. Das Thema scheint mich gerade sehr zu beschäftigen. Ich weiß noch nicht richtig, warum. Mich beschäftigt das Älterwerden, das Bewusstsein der Vergänglichkeit – die Lebenszeit, die man nutzen muss … Und ja, die Texte sind nicht chronologisch sortiert, das war für mich kein Kriterium für einen guten Aufbau des Gedichtbands.

Was dann?

Ich habe lange überlegt, es gibt da ja verschiedene Möglichkeiten. Ich wollte eine Dramaturgie, ich wollte, dass diese Gedichte eine Geschichte erzählen, wenn man so will, und Anfang und Ende einer Entwicklung zeigen.

Das ist gelungen, wenn man die Texte übergreifend liest, erkennt man Querverbindungen. Und klar wird auch, dass Ihnen Musik wichtig sein muss, oder?

Enorm! Ich finde Musik auf mehreren Ebenen sehr wichtig. Auf der Arbeitsebene könnte ich mir nicht vorstellen, ohne Musik zu schreiben. Ich muss Musik hören, während ich schreibe. Nur ganz am Ende, wenn der Text also fast fertig ist, dann mache ich die Musik auch mal aus, weil ich für mich überprüfen will, ob der Text auch ohne die Musik wirkt. Für mich ist das zu einem Ritual geworden. Wenn ich schreibe, dann in der Regel so, dass ich mir erst mal über Wochen hinweg Notizen mache, Wörter sammle, Sätze, Verse, Zitate, auch aus Songtexten, Filmen oder literarischen Texten. Und ich merke dann selbst oft noch gar nicht, wohin die Reise geht.

Das bedeutet, dass nicht ein bestimmtes Thema im Fokus eines neu entstehendes Gedichts steht …

Nein, überhaupt nicht. Das ist eher eine große Ausnahme. In der Regel ist es so, dass ich erst mal einfach nur Material sammle, und dann erkenne ich irgendwann, dass ich genug habe, das ist ganz intuitiv. Dann beginnt der eigentliche Arbeitsprozess, ich sichte das Material – und zu diesem Zeitpunkt haben sich dann auch die vier, fünf oder sechs Lieder herauskristallisiert, die ich dabei immer wieder gehört habe. Wenn ich mit diesen Notizen arbeite und versuche, daraus Verse und Strophen zu machen, dann drücke ich quasi auf Play – und ich bin in der Stimmung drin. Das ist für mich wie ein Kokon oder ein Zelt. Und wenn ich in diesem Zelt bin, dann vergesse ich auch die Zeit um mich herum. Dann gucke ich manchmal später auf die Uhr und erschrecke richtig, weil zwei Stunden um sind und ich das überhaupt nicht gemerkt habe.

Eine schöne Art von Arbeitsatmosphäre!

Auch eine Art von einem Ideal. Ich finde ja, dass die Musik als Kunstform Dinge kann, die die Literatur einfach nicht kann. Du hast ja hier bei den Gedichten nur das geschriebene Wort, aber dort hast du eben den Gesang, die Stimme, den Text, auch das Musikvideo, die Live-Performance. Musik als audiovisuelles Gesamtkonzept, was du auf Albumlänge eben auch spüren kannst.

Wie lange brauchen Sie für ein Gedicht?

Mehrere Wochen, manchmal Monate.

Wann sind Sie zufrieden?

Eigentlich genau in dem Moment, wenn ich nicht mehr darüber grüble. Also wenn ich das Gefühl habe, ich bin damit im Reinen. Und wenn es kein Wort mehr gibt, das mich stört.

Apropos Störung: In dem Gedicht „Schlesisches Tor“ gibt es diesen seltsamen Satz: „Es ist alles so selten geworden“ – dazu konnte ich gar keine Idee entwickeln. Was meint das?

Dieses Gedicht habe ich tatsächlich über Jahre hinweg immer wieder überarbeitet. Ich glaube, die erste Fassung ist von 2007, und es gibt drei unterschiedliche Versionen von diesem Gedicht. Man merkt, wenn Zeit vergangen ist, ob man noch zu einem Text eine Verbindung aufbauen kann. Muss ich den zurücklassen, weil der für mich eher eine Art Übung war? Oder ist da noch irgendetwas, was mich heute betrifft? Finde ich mich darin noch wieder, entspricht er auch noch meinen Ansprüchen? Und ich habe immer gedacht, ich brauche diesen Text, aber er genügte nicht mehr ganz meinen Ansprüchen. Und deswegen habe ich ihn alle paar Jahre überarbeitet und zuletzt im letzten Sommer, das ist jetzt die aktuelle Fassung.

Letzten Sommer …

… habe ich intensiv an dem Gedichtband gearbeitet, die Texte beendet, teilweise, wie zum Beispiel auch das Gedicht über den historischen Umgang mit der DDR, komplett neu geschrieben. Tja, und was bedeutet jetzt dieser Vers? Also, ich glaube, es ist mein Job, die Texte zu schreiben, aber nicht, eine endgültige Lesart vorzugeben.

Okay, das ist klar. Ich mache mir als Rezipient einen Reim drauf.

Gedichte funktionieren ja eher auf einer bildlichen Ebene, und ich glaube, man soll diese Verse nicht alle wortwörtlich nehmen. Man muss sie verstehen als ein Bild. Wofür konkret, das muss man für sich selbst entscheiden.

Sie schreiben über Sehnsucht, Liebe, Verlust, Schmerz. „Ist es möglich, einmal alles/ aber auch wirklich alles/ zu erzählen?“, heißt es im Gedicht „Fantasy“. – Ich will fragen, auch weil Sie an derzeit Ihrem zweiten Gedichtband arbeiten: Lassen Sie Themen aus?

Grundsätzlich ist es nicht möglich, über alles zu schreiben. Es ist einfach ein utopisches Moment an der Stelle. Du kannst nicht alles, was du fühlst und denkst, in Worte, in Sprache übersetzen, das geht nicht. Aber da ist dieser Traum, diese Utopie und darum auch die Lust am Schreiben, weil du das Gefühl hast, du willst etwas aufschreiben, was es so noch nicht gab, was so noch niemand gesagt hat. Das ist ja einer meiner Antriebe. Und dieses Gedicht „Fantasy“ ist mir tatsächlich extrem wichtig. Auch das ist übrigens ein Text, der älter und mehrfach überarbeitet ist. Diese drei Verse, die ja übrigens auf die Dunkelheit folgen …

Ich zitiere mal: „Die Dunkelheit bricht früh herein,/ ich trete in sie ein/ Dunkel umschließt mich.“

Die Dunkelheit als eine Voraussetzung, um erzählen zu wollen und zu können. Ein dunkler Raum kann ein Schutzraum sein, man fühlt sich sicherer, man ist nicht einem unangenehmen Licht ausgesetzt. Man traut sich eher, den Mund aufzumachen, wenn man das Gefühl hat, man ist für sich.

Ich habe mir auch Begriffe (oder besser Zustände) wie Unruhe notiert, und Angst – und Wüstung. Wüstung ist ein tolles Wort. Ich kannte das gar nicht!

Ehrlich, ich kannte dieses Wort auch nicht. Ich bin in einer Fotoausstellung 2018 darauf gestoßen. Ein Bild hieß „Wüstung“. Zu Hause habe ich natürlich gleich zum Duden gegriffen. „Wüstung“ bezeichnet einen verlassenen Ort, ein aufgegebenes Dorf, eine aufgegebene Stadt.

Quasi Wüste.

Wo sich die Natur diesen Ort, der verfällt, zurückerobert. Eine Wüstung: Das ist der Rest, der bleibt.

Das ist berührend.

Dann habe ich doch mein Ziel erreicht. Also wenn ein Gedicht bei den Lesenden einfach ein echtes Gefühl auslösen kann. Besser als irgendein Instagram-Post. Das ist alles so falsch und so … (überlegt) mager. Wenn ein Text eine ehrliche Emotion bewirken kann, dann ist doch alles gut.

Sehr nah gingen mir in dem Gedicht „Diesmal träume ich“ – es steht am Ende des Gedichtbands – diese Zeilen: „Ich werde nie mehr Angst haben./ Denn ich bin/ ein Engel unter Engeln.“

Das freut mich! Ich habe viele Jahre Probleme mit dem Wort „Engel“ gehabt, weil das natürlich ein total abgenutzter Begriff ist, allein durch die vielen Popsongs et cetera … Ein Wort, das ich nie mochte. Und letztes Jahr dachte ich aber, vielleicht kann ich dieses Wort irgendwie für mich nutzen. Ganz dosiert an einer ganz prominenten Stelle und zum Beispiel in einem Gedicht am Ende des Gedichtbands, um eine andere, metaphysische Ebene deutlich zu machen. Und ich hätte es kitschig gefunden, nur zu schreiben: „Ich bin ein Engel“. Aber in dem Moment, in dem du sagst, du bist ein Engel und alle anderen sind auch Engel, löst sich der Engel ja wiederum auf. Dann brauchst du die Kategorie gar nicht mehr. Das Gute gibt es ja auch nur, weil es das Böse gibt. Wäre alles in der Welt gut, gäbe es das Wort „gut“ gar nicht. Und damit hebt sich das ja dann auch wiederum auf. Alles wird engelhaft.

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