Der Schaulust frönen

In multimedialen Installationen wie „Sehnsucht“ im Berliner Lighthouse findet eine Techno-Überwältigungskunst ihr Publikum. Die künstlerischen Unternehmen erinnern an das Panorama, das historisch auch ein Massenphänomen war

Durch die bewegte Farbe wandern im „Lighthouse“ Foto: Lighthouse

Von Tilman Baumgärtel

Langsam erwachen die Orte in Berlin wieder zum Leben. Auf dem RAW-Gelände in Friedrichshain, das pandemiebedingt lange verwaist war, hört man wieder Musik; Touristen tapern auf der Suche nach der Berliner Szenekultur durch die Gegend. Dabei ist eigentlich noch gar nicht viel los. Möglicherweise geraten sie dabei in einer Seitengasse zum Lighthouse of Digital Art, einer Halle, die bei Google Maps als „Museum of Modern Art“ bezeichnet wird, aber eher an schon zur Geschichte ­gewordene Berliner Clubs in Fabrikhallen erinnert – wie etwa das einstige Maria am Ufer.

Die meisten derjenigen, die hier mit ihren gespeicherten Digitaltickets auf dem Handy auf Einlass warten, haben ihren Besuch offenbar gut geplant. Denn der Ruf der Multimediashow „Sehnsucht“ des Künstlerduos Desilence aus Barcelona, die hier seit einigen Wochen zu sehen ist, hat sich über die sozialen Medien verbreitet. Dank Instagram, Youtube und Co – der Mundpropaganda unserer Tage – sind viele der täglich zehn Aufführungen in der Halle ausverkauft, die die Musiker und Künstler Vasily Fedotov und Balthazar Jungnell seit dem letzten Sommer betreiben.

Wie bei einer Kinovorstellung muss man pünktlich zur vollen Stunde erschienen, um eine raumgreifende Video-Rundumprojektion mit Musikbegleitung zu erleben. 20 Zuschauer, die meisten unter 30, lassen sich in die Beanbags auf dem Boden oder auf Klappstühle an der Wand sinken, um sich in der etwa 100 Quadratmeter großen Halle knapp eine Stunde den abstrakten ­Animationen zu elektronischer Musik hinzugeben, die auf Wände und Fußboden projiziert werden – eine Art Virtual Reality ohne Head-Mounted-Display-Brillen.

Das sieht dann mal aus wie ein Schwarm Leuchtfische, mal wie eine explodierte Lava-Lampe. Pixel regnen von der Decke wie ein Wasserfall, dann drängen sie wie Glutfluss von ­unten nach oben. Aus Strukturen wie von ­einer Cirruswolke wird ein Feuerwerk, aus ­grünlichen Wellenformationen ein rostroter virtueller Sandsturm. Man sieht der Arbeit an, dass die Schöpfer dieses automatisierten ­Action-Paintings aus der Clubszene kommen und in der Regel Tanzflächen mit ihren ­digitalen Animationen bespielen. Dazu erklingt als musikalische Sauce eine Mischung aus Tangerine Dream und Brian Eno in seiner Ambient-Phase, die von dem Berliner Audio­designer Planets of the Sun stammt.

Man kann das zwar auch alles für den reinen Kitsch halten, für Techno-Überwältigungskunst ohne Tiefgang. Aber das Lighthouse erinnert auch an das frühe Massenmedium des Panoramas. An dieses ebenfalls visuelle Rundum-Spektakel, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts kurzzeitig ein Massen­phänomen war, knüpfen heute in Berlin die Panoramen von Yadegar Asisi im Pergamonmuseum und am Checkpoint Charlie an. Wie das Lighthouse wurden die historischen Panoramen meist von Künstlern geschaffen und gebaut, die sich so einen eigenen Raum für ihre Kunst mit einem hohen persönlichen Risiko erkauften. Die immensen Kosten verboten elitären Kunstgenuss, das Medium musste durch massenhaften Verkauf von Eintrittskarten finanziert werden.

Das gilt auch für die Multi­media-Shows, die in Berlin in der letzten Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen sind: Möglicherweise weil dank der Pan­demie gerade Gewerberäume leer stehen, ist die fast vergessene Berliner Institution der „Zwischennutzung“ zu neuem Leben erwacht – auch das Lighthouse hat nur einen zwei­jährigen Mietvertrag. Gerade in Friedrichshain sind entlang der Spree eine Reihe von tempo­rären Orten für derartige ­Multimedia-Projekte entstanden, in denen Hightech-­Installationen ein Massen­publikum anziehen.

Im Panorama waren oft historische Schlachtszenen zu sehen, jetzt sind es abstrakte Bildwelten

Wurden im Panorama der Vergangenheit oft historische Schlachtszenen und ferne Gegen­den gezeigt, so sind im Lighthouse als „home of code-driven art“ abstrakte, computergeschaffene Bildwelten zu sehen, die durch algorithmische Wellenform-Generierung und Wavetable-Synthese entstehen und dann zusammen mit der Musik zu einer „Audioerzählung“ zusammengeknispelt werden.

Die resultierenden bewegten Muster mögen dem Kunstconnaisseur banal erscheinen, aber für den ist das Ganze auch gar nicht gemacht. Wie bei den NFT-Künstlern, die im ver­gangenen Jahr kurzzeitig nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch richtiges Geld einfuhren, hat sich hier ein kulturelles Parallel­universum aufgetan, in dem eine Kunst stattfinden kann, die nichts mit dem ­institutionalisierten Kulturbetrieb zu tun hat, aber ihr eigenes ­Publikum gefunden hat. Und das ist begeistert davon, „in Bilder und Musik abtauchen“ zu können, wenn man den Google-Maps-Kommentaren glauben darf.

Einen Schönheitsfehler hat die Installation allerdings: Wer in einem der Beanbags versunken ist, um der Show zu folgen, sieht vor allen Dingen an die Decke und damit auf einen Apparatepark von 40 Beamern, die die ganze Show auf Wände und Fußboden projizieren. Eine vollkommene Immersion in das optische Paralleluniversum ist so nicht möglich; zu sehr wird man mit den technischen Bedingungen seiner Existenz konfrontiert. Das ist zwar höchst aufklärerisch, aber wahrscheinlich nicht im Sinne der Erfinder, die hier mit einer Kuppelkonstruktion à la Buckminster Fuller besser bedient wären.

„Sehnsucht“: Desilence, Planets of the Sun. Lighthouse, Berlin, Revaler Straße 99