Afghanistan unter den Taliban: Englischstunden im Untergrund

In Afghanistan ist Mädchen der Besuch weiterführender Schulen verboten. Doch für manche geht der Unterricht weiter – in geheimen Klassenzimmern.

Mädchen mit Kopftüchern sitzen auf sandigem Boden vor einer weißen Tafel

Unterricht unter widrigen Umständen: geheime Mädchenschule in Kandahar Foto: andalou

SPIN BOLDAK/KANDAHAR taz | Ein Mann kommt hinter einem Strauch hervor und führt zu einen Feldweg mit zerstörten Häusern und von dort in labyrinthartige, von Lehmwänden begrenzte Gassen. Hier ist kein Mensch zu sehen. Aber dann öffnet sich ein Tor. Und eine Tür. Ein Vorhang, eine weitere Tür. Schließlich noch ein Vorhang – und dahinter ist eine geheime Mädchenschule. In neun Sechserreihen lernen hier 54 Mädchen Englisch.

Nach Monaten des internationalen Drucks mit Sanktionen, die das Gros der Bevölkerung in die Armut stürzten, hatten die Taliban am 23. März die Oberschulen für Mädchen zunächst geöffnet, sie dann aber sofort wieder nach Hause geschickt. Seitdem dürfen sie nur noch bis zur 6. Klasse die Schule besuchen. Dabei existieren in vielen Landesteilen Afghanistans überhaupt keine Schulen.

„Es ist keine politische Frage, sondern vor allem eine finanzielle,“ sagt Matiullah Wesa. Der 32-Jährige ist der Gründer von Pen Path, eines ländlichen Netzwerks von Schulen – und jetzt auch von „geheimen“ Schulen für Mädchen. „Einige Eltern sind gegen die Bildung von Mädchen. Aber das ist eine Minderheit. Viele fordern nur weibliche Lehrkräfte, richtige Klassenzimmer statt Zelten oder Matten auf dem Boden. Und sichere Straßen. Denn manchmal gibt es eine Schule, aber keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Das sind die wirklichen Hürden“, sagt er.

In Afghanistan können nur 38 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben, der weltweite Durchschnitt sind 84 Prozent. Die Alphabetisierungsrate von Frauen liegt bei 17 Prozent. Doch sind nicht die Schüler, sondern die Lehrer das Problem. Weniger als die Hälfte von ihnen hat einen Abschluss.

Pen Path betreibt 34 „geheime“ Schulen

„Studiert wurde hier, um Ingenieur, Arzt, Anwalt oder Professor zu werden“, sagt eine Lehrerin. In Afghanistans zweitgrößter Stadt Kandahar haben die Klassenzimmer immerhin Tafeln. Aber Fragen nach einem Internetzugang erübrigen sich, es gibt ja nicht einmal Strom. „Die Kinder hier brauchen alles“, erklärt sie, „auch etwas zu essen. Denn sonst können sie vor Hunger dem Unterricht nicht folgen.“

Pen Path hat landesweit 2.400 freiwillige Leh­re­r*in­nen und betreibt seit Kurzem 34 „geheime“ Schulen. Das ist nicht ohne Risiko. Auf Matiullah Wesa wurde schon viermal geschossen. Zuletzt wurde er vor einer Woche per Twitter bedroht. Ein Talib drohte, ihn umzubringen, doch ein anderer entschuldigte sich und forderte, ihn zu schützen.

Beim Thema Bildung sind die Taliban gespalten. „Es gibt einige Hardliner, aber niemand zweifelt, dass die Schulen wieder öffnen. Die Taliban beraten sich gerade mit den Ulema, unseren Islamexperten, damit ihre Entscheidung nicht infrage gestellt wird“, sagt Wesa. Sie wollen die Uniformen ändern. Und auch die Lehrpläne.

Die internationale Gemeinschaft fürchtet, dass Mathematik und Naturwissenschaften durch Religion ersetzt werden. „Aber eigentlich wollen sie die Geschichtsbücher ändern: die Geschichte der letzten zwanzig Jahre“, erzählt er. „Die werden bisher als Befreiung dargestellt, doch für die Taliban war es eine Besatzung.“ Es sei auch kein Geheimnis, dass die Töchter des Taliban-Sprechers Suhail Shaheen in Doha im arabischen Golfstaat Katar zur Schule gingen. Eine spiele sogar Fußball.

Häuser sind wie Festungen, das Leben spielt sich drinnen ab

In 9 von 34 Provinzen wurden die Oberschulen für Mädchen nie geschlossen. Doch auch dort patrouillieren bewaffnete Taliban auf den Straßen. Auf die Frage, ob sie keine Angst habe, antwortet eine Lehrerin: „Bildung ist die Zukunft Afghanistans. Die ist wichtiger als meine eigene.“

Das Problem im Süden Afghanistans ist nicht der Islam, sondern die lokale Kultur der Paschtunen. Hier sagt ein Sprichwort: „Du bist zuerst Paschtune und dann Muslim.“ Ein anderes sagt: „Eine Frau ist am besten zu Hause aufgehoben oder in einem Grab.“ Häuser hier sind wie Festungen. Das Leben spielt sich drinnen ab. Die Taliban hier sind keine Fremden, sondern Spiegelbild eines Teils der Gesellschaft. Die Burka gab es schon vor den Taliban. Und vor allem haben Frauen zu Hause zu bleiben.

Nicht weit entfernt von der versteckten Schule befindet sich der Taliban-Friedhof. Dort beten Afghanen für Wunder und Heilung. „Hier, wo fast niemand lesen und schreiben kann, kommen die meisten von uns Lehrern von außerhalb. Viele Familien sind misstrauisch und fürchten eine Gehirnwäsche ihrer Kinder“, berichtet eine Lehrerin. Oft stammten die Schulbücher vom UN-Kinderhilfswerk Unicef. Der Westen ist hier kein Synonym für Freiheit, sondern für Krieg. Matiullah Wesa war neun Jahre alt, als seine Schule angezündet wurde – nicht von den Taliban.

Die internationale Gemeinschaft ist in der Frage der Bildung so gespalten wie die Taliban. Unicef droht die Bezahlung der 194.000 afghanischen Lehrer einzustellen, sollten Mädchen nicht wieder in den Unterricht gehen dürfen. Das Welternährungsprogramm droht, die Schulmahlzeiten zu streichen.

„Was wollten wir mit Sanktionen erreichen?“

„Wir müssen doch erst wissen, welche Bedingungen die Taliban für die Wiedereröffnung stellen“, sagt Jan Egeland. Der Ex-Diplomat und frühere UN-Nothilfekoordinator leitet den norwegischen Flüchtlingsrat, Oslos größte Hilfsorganisation. „Was wollten wir mit Sanktionen erreichen?“, fragt er. Schulen? Eine neue Regierung? Neuwahlen? „Bisher lassen wir die Afghanen vor allem hungern.“

Inzwischen ist es für Matiullah Wesa Zeit zu fahren. Er hat aus einem Lastenmotorrad eine mobile Schule gemacht. Auf einer Leinwand zeigt er Lehrvideos. Die Kinder drängen sich um ihn. Neben ländlichen sowie „geheimen“ Schulen betreibt Pen Path auch drei mobile Schulen. „Ich verfolge die Debatten der internationalen Gemeinschaft zum Für und Wider von Sanktionen. Doch wenn ihr euch wirklich so sehr sorgt, warum bringt ihr uns nicht einfach Internet?“, sagt er.

Pen Path betreibe mehr als einhundert Schulen, bekomme aber keinen Cent von internationalen Gebern. Alles basiere auf Spenden und ehrenamtlicher Arbeit von Afghan*innen.

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