Wahlverhalten in Deutschland: Rettet uns Schwarz-Grün?

Völlig egal, mit wem die Grünen reagieren. Hauptsache, der Koaltionspartner kann nicht den Kanzler stellen und so für Stillstand sorgen.

Utensilien am Platz des Bundeskanzlers auf dem Kabinettstisch

Wer wird in der nächsten Bundesregierung den Kanzler stellen?

Eine Grundkonstante der Bundesrepu­blik ist es, dass sich neue gesellschaftliche Mehrheiten oder Kulturen immer mit großer Zeitverzögerung machtpolitisch realisieren. Bei den gesellschaftlichen Liberalisierungen war das trotzdem okay, wenn das neue Staatsbürgerrecht oder die „Ehe für alle“ spät, aber halt doch kamen. Bei der Erd­erhitzung ist das inzwischen anders: It’s now or never. Aber welche Koalition kann’s?

Wenn nun nach den Regierungsbildungen in NRW und Schleswig-Holstein Schwarz-Grün als der große Problemlöser verkauft werden soll, dann ist das aus Sicht der CDU/CSU und mit Blick auf kommende Landtagswahlen verständlich, denn es ist derzeit ihre beste oder einzige Machtoption. Mit den Grünen als Junior sind sie in charge und scheinen auf der Höhe der Zeit zu sein – besser geht’s nicht.

Aber diese unsere Zeit ist nicht nur über die fossile SPD hinweggegangen, sondern auch über Schwarz-Grün. Die anstehenden und im Wirtschaftsministerium bereits eingeleiteten Umbrüche kann man nur mit Überzeugung, Know-how und neuen politischen Ideen und Instrumenten schaffen. Nichts davon hat die Union. Man muss sie kleinkriegen, wie Winfried Kretschmann das macht, damit sie still ist und zulässt. Mehr geht im Moment nicht.

Richtig ist, dass beide, die Grünen und die Union, die Gesellschaft zusammenhalten müssen, sodass die in der Energie- und Wirtschaftstransformation kommenden populistischen Gegenbewegungen sich nicht ausweiten wie in Frankreich. Die zentrale und völlig offene Frage unserer Zeit ist ja, ob die Vernunft siegen wird. Sagen wir es neutraler: wessen Vernunft siegen wird. Die Vernunft, die Zukunft schaffen will. Oder die Vernunft, die sich an die Gegenwart klammert. Ich halte Ersteres für vernünftiger, aber andere halten mich deshalb für ein elitäres Arschloch.

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Sicher können SPD-Kanzler und auch CDU-Oppositionsführer hoffen, dass die große gesellschaftliche Zustimmung für Vizekanzler Robert Habeck und dessen Politik der kurzfristigen Energiesicherheit und mittelfristigen Unabhängigkeit von Russland und fossilen Energien schon bis Weihnachten zurückgehen wird. Aber was, wenn nicht? Was, wenn sich zunehmend mehr Leute für die unbequeme Vernunft der sozialökologischen Transformation entscheiden, was im Moment als gleichbedeutend mit einer Stimme für die Grünen verstanden werden muss?

Dann wird die Versuchung nicht nur für die Union, sondern für alle Konkurrenzparteien groß sein, die Gesellschaft eben nicht zu einen für den Job, für den man selbst keine Ideen hat, keine Parteikultur und keine Sprache. Sondern zu spalten oder zumindest die Transformation im Namen der „alleinerziehenden Verkäuferin“ zu bremsen – statt dafür zu sorgen, dass genau diese die zusätzlichen Lasten eben nicht auch noch tragen muss.

Es ist hart, aber wir können nicht die „Zeitenwende“ ausrufen – und dann machen wir weiter wie bisher. Und das tun sowohl CDU als auch SPD verlässlich. Das war viele Jahrzehnte richtig. Und nun ist es falsch. Und deshalb ist es egal, ob in der nächsten Bundesregierung die Schwarzen oder die Roten mit den Grünen regieren. Vorrangig ist, dass keiner von beiden den Kanzler stellt und damit die Weiter-so-Führung beanspruchen kann.

Ob’s dann funktioniert, ist nicht klar. Nur, dass es anders auf keinen Fall geht.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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