Vom Anderen her denken

Einsprüche kritischer Fantasie: Die Soziologin und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk ist gestorben

Von Rita Bischof

Dass Denken selbst ein Politikum ist, hatte Elisabeth Lenk von Theodor W. Adorno gelernt, dessen engagierte Schülerin sie war. In der Einleitung zu ihrem Briefwechsel mit ihm schreibt sie, dass er für sie derjenige war, „der am konsequentesten die Aufarbeitung der Vergangenheit gefordert und fast als einziger tatkräftig in die Hand genommen hatte“.

Auf dem Foto, das dem Briefwechsel vorangestellt ist, ist sie mir immer als die „wahre Ikone“ der 68er erschienen, obwohl sie selbst sich stets als eine 62erin bezeichnet hat. Damals hatte der Historiker Reinhard ­Strecker die Ausstellung „Aktion ungesühnte Nazijustiz“ organisiert, die auf erheblichen Widerstand der etablierten Parteien gestoßen war und zum Ausschluss des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes aus der SPD geführt hatte. Als es im Oktober 1962 auf der legendären XVII. Delegiertenkonferenz zu einer Neugründung des SDS kam, hielt Elisabeth Lenk das Grundsatzreferat und entwarf die Idee einer kritischen, von Parteien unabhängigen studentischen Linken, die nicht allen gefiel. Man warf ihr vor, den SDS auf Adorno-Linie bringen zu wollen.

Sechs Wochen nach der Frankfurter Delegiertenkonferenz eröffnete Adorno den Briefwechsel, aber da war der SDS schon nicht mehr das Thema. Elisabeth Lenk, die bereits in Frankfurt französische Deserteure betreut hatte, war noch im selben Jahr ganz nach Paris gezogen, wo José Pierre sie schon bald mit André Breton, einem der Initiatoren der „Déclaration des 121 sur le droit à l’insoumission dans la guerre d’Algérie“, bekannt machte. Breton verabschiedete sich mit den Worten „Venez au café“. Seitdem war sie Mitglied der „Groupe surréaliste“, bis sie ein Jahr nach Bretons Tod wegen situationistischer Abweichungen ausgeschlossen wurde.

Dass für Elisabeth Lenk das Politische nicht auf das Feld der Aktion begrenzt war, sondern seine Bewährung erst im Denken fand, zeigt sich in allen ihren Texten, so fremd deren Themen dem Politischen bisweilen scheinen. Das Politische bildet ihre Substruktur, ist aber bis in die späteren Jahre hinein oft auch Thema. Das gilt für den Fourier-Essay, Lenks ersten großen Text, der Adorno so sehr begeisterte, dass er sich zu einem Liebesbrief hinreißen ließ – welcher unbeantwortet blieb –, über die Studien zum Surrealismus bis zur Analyse der mimetischen Grundstruktur in Traum und Literatur in „Die unbewusste Gesellschaft“.

Das Ausgeschlossene

Der Titel einer Sammlung von Artikeln und Essays „Kritische Phantasie“ bringt auf den Begriff, worum es ihr zeitlebens ging: um Phänomene wie zum Beispiel eine Fantasie, die – rehabilitiert – selbst zu einer kritischen Instanz wird und Einspruch erhebt.

Die Geschichte des Denkens aus der Perspektive des von ihr Ausgeschlossenen zu betrachten, das Andere, Heterogene, Nichtidentische zum Sprechen zu bringen, was immer auch eine soziale und ethische Bedeutung einschließt, verbindet in ihrem Denken Adorno mit Fourier und den Surrealisten oder den schattenhaften Gegenwärtigkeiten des Traums. Dass die Spannung, die die Texte Elisabeth Lenks charakterisiert, eine zwischen dem Gleichen und dem Anderen ist, prägt sich auch ihrem feministischen Engagement auf. Legendär ist ihr Text „Die sich selbst verdoppelnde Frau“, der 1976 regelrecht Furore gemacht hat und als Vorbild weiblicher Schreibweise galt. Man könnte sagen: Dieser Text war ein Manifest.

Ich möchte hier jedoch an einen späteren erinnern, an „Pariabewusstsein und Gesellschaftskritik bei einigen Schriftstellerinnen seit der Romantik“, der offenbar vergessen ist. Darin beschwört sie, an Georg Simmel geschult, die „Kaste der Dazugehörigen“ und widerspricht seiner These: Nicht wer dazu gehört, kann die Wahrheit einer Gesellschaft und ihrer kulturellen Phänomene ganz erkennen, vielmehr bedarf es, „um adäquat über Gesellschaftliches zu reflektieren, […] eines Punktes außerhalb“.

Jetzt ist Elisabeth Lenk nach langer Krankheit in Berlin gestorben. Ihr Blick fehlt.