Noles Nerven aus Stahl

Der Serbe Novak Djokovic lässt sich vom Enfant terrible Nick Kyrgios nicht aus der Ruhe bringen und gewinnt Wimbledon. Doch kommende Großturniere muss er wohl absagen

Küsschen für den Pott: Djokovic gewinnt – und rutscht auf Platz 7 der Weltrangliste runter, weil es in London keine Punkte gab Foto: ap

Aus London Jörg Allmeroth

Der Pulverrauch des Wimbledonfinales war längst verflogen, als Nick Kyrgios (27), der geliebte Bösewicht und Verlierer des Duells mit Novak Djokovic (35), ein Geständnis ablegte. Nie habe er sich in den letzten beiden Wochen „wirklich wohl gefühlt“, „enormer Druck“ habe auf ihm gelastet, Angst habe ihn in der Schlussphase des Turniers übermannt. Am Ende sei er, nächtens schlaflos und unruhig, fast besessen gewesen von der Grübelei, „ob ich im Match versage und mich richtig benehme“.

Was aber hätte Djokovic dazu sagen können, er und die anderen Spitzenkräfte, die der Konkurrenz seit Jahren den Spaß vermiesen? Seit dem 6. Juli 2003, dem ersten Wimbledon-Erfolg von Roger Federer (40), werden er sowie Rafael Nadal (36) und Djokovic von der Meute gehetzt. Es sei „nicht in Worte zu fassen“, was die großen drei in den letzten knapp zwei Jahrzehnten geleistet hätten, sagte am Sonntag Amerikas Exprofi Andy Roddick, „ihre Siegesserien sind absolut unmenschlich“.

Djokovic, der letzte, der in den elitären Kreis der Abonnementsgewinner vorstieß, hat sich inzwischen als neuer Herrscher in Wimbledon etabliert – unbeeindruckt von den Krisenerfahrungen, die er als Coronaimpfgegner durchmachen musste. „Andere hätten nach einer Geschichte wie der mit Nole in Australien nie wieder einen Tennisplatz betreten“, erklärte Djokovics Coach Goran Ivanisevic nach dem siebten Pokalcoup des Belgraders, „aber wenn es hart auf hart geht, hat er Nerven wie aus Stahl“.

Die großen drei sind mittlerweile nur noch die großen zwei, weil Federers letztes großes Ziel nur noch ein Comeback bei diesem oder jenem Turnier ist – Auftritte etwa in seiner Heimatstadt Basel oder nächstes Jahr in Wimbledon. Mit ihm aber begann eine Epoche im Welttennis, die von der beispiellosen Dominanz einer herausragenden Spielergruppe geprägt war. Auch und gerade in Wimbledon, denn in die Phalanx der Titanen konnte hier in zwei Jahrzehnten nur Andy Murray, der Lokalmatador, einbrechen (2012, 2016). Federer gewann achtmal, Djokovic siebenmal. Und für ihn, den Djoker, ist das Ende der Pokalambitionen noch keineswegs absehbar. Auch im nächsten Jahr und bis an die Vierzig könnte der geschmeidige Athlet im Titelrennen bleiben und seinen persönlichen Ehrgeiz stillen, als neuer Rekordchampion an der Church Road die Karriere beenden.

Von Wachablösung ist im Tenniskosmos auch 19 Jahre nach Federers Premierensieg auf dem heiligen Centre Court nichts zu spüren. Auch in der laufenden Saison, die doch vermeintlich das Aufscheinen neuer Grand-Slam-Sieger bringen sollte, zeigt das Establishment seine unglaubliche Kraft. Nadal, der leidende, dauernd verletzungsgeplagte Gladiator, holte sich dennoch die beiden ersten Major-Trophäen in Australien und Frankreich, Djokovic legte nun in Wimbledon nach im internen Duell der Giganten.

Galerie der Besten

1. Rafael Nadal (Spanien) 22 (14-mal Paris)

2. Novak Djokovic (Serbien) 21 (9-mal Melbourne)

3. Roger Federer (Schweiz) 20 (8-mal Wimbledon)

4. Pete Sampras (USA) 14 (7-mal Wimbledon)

5. Roy Emerson (Australien) 12 (6-mal Melbourne)

6. Björn Borg (Schweden) 11 (6-mal Paris)

6. Rod Laver (Australien) 11 (4-mal Wimbledon)

8. Bill Tilden (USA) 10 (7-mal New York)

Kyrgios, der gescheiterte Provokateur, ist nur ein Beispiel dafür, dass bemerkenswertes Talent allein nicht für eine Erfolgskarriere ausreicht. Auch Alexander Zverev, der deutsche Frontmann, der gerade seine schwere Bänderverletzung von den French Open auskuriert, hat schon erleben müssen, wie massiv die Herausforderungen auf dem Weg zu Grand-Slam-Ruhm sind. Djokovic und Co, alle schon zwei Dekaden unterwegs in der Tretmühle der Tour, meistern die Strapazen auch jetzt noch mit einer Professionalität und Energie, die den jüngeren Verfolgern abgeht.

Djokovic mag abseits der Tour einen Hang zur Esoterik entfalten. Geht es aber um seinen Sport selbst, ist er genau wie Nadal oder Federer ein absoluter Meister der Selbstoptimierung – einer, der in den heißesten Zweikämpfen die kühle Souveränität fast nie verliert. Gegen Djokovic, den Champion, wirkte der 27-jährige Kyrgios am Sonntag wie ein verzogenes, unreifes Kind, das es auf eine große Bühne verschlagen hat.

Djokovic hätte gut und gerne längst der Spitzenreiter in der Grand-Slam-Hierarchie sein können – trotz seiner schon fantastischen Bilanz von 21 Siegen und 32 Finalauftritten bei 66 Major-Teilnahmen. Die Hoffnungen, auch Nadal überrunden zu können, zerdepperte er sich zuletzt. Auch wenn Djokovic als Ungeimpfter und Abgeschobener die nächsten beiden Grand Slams in New York und Melbourne verpassen sollte – er hat den langen Atem, um früher oder später die ewige Nummer eins zu werden.