Niemand steht außerhalb der Geschichte

Der Angriffskrieg auf die Ukraine und die weltweiten Folgen sind – aus historischer Perspektive – nicht überraschend. Eine Analyse

Charkiw, im April 2022: Ein von russischem Militär zerstörtes Verwaltungs­gebäude Foto: Shin Yahiro/Redux/laif

Von Barbara
Horn

Als im Januar 2021 Noam Chomskys „Rebellion oder Untergang“ auf Deutsch erschien, hielt ich seine Warnung vor dem atomaren Untergang als der größten Gefahr für diesen Planeten für nicht sehr aktuell. Die Klimakatastrophe war allgegenwärtig: Fridays for Future, das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens, der Schlussbericht des Weltklimarates mit seinen katastrophalen Zukunftsprognosen.

Seit Ende Februar ist alles anders. Am 24. Februar beginnt Russland gegen die Ukraine einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Ich habe nicht mit diesem Überfall gerechnet. Bis dahin hatte ich auf die in der Schlussakte von Helsinki festgeschriebenen Prinzipien und Rechtsverbindlichkeiten vertraut: Die souveräne Gleichheit der Staaten sollte geachtet werden, es sollte keine Androhnung oder Anwendung von Gewalt gegenüber anderen Staaten geben, die Unverletzlichkeit der Grenzen wurde zugesichert, die Menschenrechte Beachtung finden. Unterzeichnet wurde die Schlussakte von allen EU-Staaten, den USA, der Sowjetunion und Kanada. Nach der Unterzeichnung 1975 begannen sich die Ost-West-Beziehungen zu normalisieren. Weitere Entwicklungen mit Unterstützung von Gorbatschow führten am 3. Oktober 1990 zur deutschen Wiedervereinigung und Anfang der 90er Jahre zur Auflösung des Warschauer Paktes.

Die Geschichte der UN und der ­Konferenz über Sicherheit in Europa (KSZE) mit der Schlussakte von Helsinki sind Reaktionen der Staatengemeinschaft auf den mörderischen Expansionskrieg Deutschlands unter ­Hitler im Zweiten Weltkrieg. Es sollte mit den Prinzipien verhindert werden, dass jemals wieder sich ein solcher Krieg entwickeln würde. 1999 schlägt der damalige russische Präsident Boris Jelzin Wladimir Putin als seinen Nachfolger vor, die Duma stimmt zu. Seit dem 7. Mai 2000 ist er nun Präsident der Russischen ­Föderation mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012.

In diesen Zusammenhang gehörtauch der Atomwaffensperrvertrag. Der erste Vertrag wurde am 1. Juli 1968 von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion unterzeichnet. Bis 2005 unterschrieben 191 Staaten die Vereinbarung über den Nichtbesitz und die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes 1991 entstanden neben Russland etliche Einzelstaaten wie etwa Belarus und die Ukraine. Zu Zeiten des Warschauer Paktes waren die sowjetischen Atomsprengköpfe nicht nur im russischen Kernland, sondern auch in der Ukraine, in Belarus und in Kasachstan gelagert. Besonders die Ukraine ging mit rund 1.000 Atomsprengköpfen aufgerüstet aus dem Warschauer Pakt hervor. Weder die USA noch Russland waren davon begeistert. Die Ukraine legte damals aber keinen großen Wert auf ihren atomaren Besitz. Während Russland die atomaren Sprengsätze natürlich gerne haben wollte.

Diese Staaten des Warschauer Paktes waren gegen entsprechende Sicherheitsgarantien bereit, sich von ihrem atomaren Vermächtnis zu trennen. Ende 1994 wurden in Budapest drei Memoranden unterzeichnet von Russland, den USA, Großbritannien, der Ukraine, Belarus und Kasachstan. Ihnen wurde als Gegenleistung zugesagt, die Souveränität und die bestehenden Grenzen dieser Länder zu respektieren, das UN-Gewaltverbot zu achten und andere Verpflichtungen, die sich aus der Schlussakte von Helsinki, aus der UN-Charta und aus dem Atomwaffensperrvertrag ergeben, einzuhalten.

Gemeinsam gegen die Macht der Konzerne und den Kapitalismus

20 Jahre später sollte Putin mit der Annexion der Krim alle Verträge und Vereinbarungen brutal in den Papierkorb treten. Damals – 1994 – wäre die Ukraine die drittstärkste Atommacht der Welt gewesen. Niemand hätte sie zwingen können, ihr atomares Arsenal abzugeben. Russland anderseits wollte die Sprengköpfe haben. Der Deal: Sprengköpfe gegen Sicherheit der staatlichen Souveränität.

Und jetzt 2022 der Überfall auf die Ukraine. Wieder gibt es einen eklatanten Bruch aller Vereinbarungen, die die Staaten seit Ende des Zweiten Weltkrieges getroffen haben, um genau so eine Situation zu verhindern. Es ist der schreckliche Eindruck entstanden, als könne nur ein atomarer Schutzschirm Sicherheit geben. Schweden und Finnland haben das erkannt. Auch andere Länder werden sich in den nächsten Jahren darum bemühen, selbst Atomwaffen zu entwickeln, wie der Iran. Chomsky sieht als einzige Möglichkeit gegen die ständige Weiterentwicklung atomarer Arsenale eine weltweite, ­staatenübergreifende Solidarität aller Menschen. Sie sollten sich zusammentun, um die Macht der Konzerne und das Treiben des Kapitalismus in die Grenzen zu weisen.

Wie geht es weiter in Europa? Niemand weiß es. Die Menschen in der Ukraine kämpfen um ihre Souveränität, die ihnen die Weltgemeinschaft einst zugesichert hat. Aber die Solidarität der Staaten ist gering, weltweite Solidarität der Menschen, wie Chomsky sie fordert, ist nicht absehbar. Ein Beispiel dafür ist die Energieabhängigkeit von Russland. Wäre sofort auf die Einfuhr russischer Energie verzichtet worden, hätte dies einen Wohlstandsverlust vergleichbar mit dem Jahr 2000 bedeutet. War 2000 wirklich so schlecht? Ich frage mich, ob mit unserem halbherzigen Energieembargo überhaupt etwas erreicht wurde. Putin hatte Zeit, sich neue Gasabnehmer zu suchen. Die Preise sind gestiegen, der Rubel ist stärker als vor dem Krieg. Putin kann es sich leisten, Gaslieferungen nach und nach einzustellen. Ist dies wirklich überraschend? Was zählt, ist offenbar nach wie vor ein dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum. Mit Blick auf die Klimakatastrophe gibt es aber keine Alternative zu der Abkehr von diesem Prinzip. Dies fordert auch der Weltklimarat. Für Chomskys Vision einer weltweiten Bewegung von unten ist es wohl noch zu früh.