Mangel und Zwang schaffen Solidarität

Heiner Möhring engagierte sich in der DDR in der Studentengemeinde und als Bausoldat. Heute ist der 80-Jährige für die Genossenschaft Oikocredit aktiv– ein Hausbesuch

Kuckucksuhr: mitgebracht von der Hochzeitsreise seiner Eltern

Von Claus Oellerking (Text und Fotos)

Die Schweriner Werdervorstadt ist ein städtisches Wohngebiet. Die Wellen von vier Seen klatschen an die Ufer des Ortsteils. Seit der Wende wurde hier viel gebaut, auch auf dem Gelände der Pathologie des ehemaligen Bezirkskrankenhauses des Bezirks Schwerin. Modern. Beton, Edelstahl und Glas dominieren. Heiner und Christa Möhring wohnen im 4. Stock.

Drinnen: Es tickt. Die Standuhr und die Kuckucksuhr machen sich im Dreißig-Minuten-Takt lautstark bemerkbar. Die Buffetuhr ist abgestellt. „Das war ein Geschenk für meine Urgroßmutter zum 100. Geburtstag“, sagt Heiner Möhring. „Sie spielt zur halben Stunde „Üb’immer Treu und Redlichkeit.'“

Elternhaus: „Lehrer, Kantor, Küster, Organist.“ So stellt Heiner Möhring seinen Vater vor. Dieser war im Ersten Weltkrieg Soldat. 1939 wird er als Lehrer in den Ostgebieten eingesetzt und kehrt zwei Jahre später nach Darnewitz bei Stendal zurück. Dort und im Nachbarort übernimmt er den Unterricht. Die Mutter kümmerte sich um Kinder und Haushalt. 1941 kommt Heiner Möhring als jüngstes von drei Kindern zur Welt.

Schulzeit: Als Schüler in der Dorfschule von Darnewitz musste auch Heiner zum Vater in den Unterricht. „Das war nicht nur schön. Während andere in einer Klassenarbeit zu ‚das und dass‘ noch eine 3 bekamen, erhielt ich bei gleicher Fehlerzahl eine 4.

„In der Oberschulzeit trafen wir uns während der Sommerferien zur evangelischen Schülerarbeit im Ferienlager. 1957 in Burg bei Magdeburg haben wir einen halben Tag in der Landwirtschaft gearbeitet und am Nachmittag den Gottesdienst für den Sonntag vorbereitet. Am Samstag zogen wir durchs Dorf und haben auf den Gottesdienst hingewiesen. Einige von uns gerieten dabei an den Dorfpolizisten. Der hat uns gemeldet und wir wurden aus dem Kreis Burg wegen Menschenbelästigung ausgewiesen.“ Diese erste eigene Erfahrung mit dem Staat hat ihn geprägt.

Studium und Arbeit

Statt Theologe wurde er Eisenbahner. Heute arbeitet er im Zentrum für Mission und Ökumene der evangelischen Kirche ehrenamtlich mit

Im praktischen Jahr vor dem Maschinenbaustudium an der Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List“ in Dresden arbeitet er zunächst in der Gepäck- und Güterabfertigung der Deutschen Reichsbahn in Stendal, später im Reichsbahnausbesserungswerk in Halle an der Saale und die letzten 2 Monate als Heizer auf der Lok. – Lieber noch wäre er Theologe geworden.

1962 führte die DDR die Wehrpflicht in der Nationalen Volksarmee ein. Einen Wehrersatzdienst gab es zunächst nicht. Bei seiner Musterung stellt Möhring klar: „Aus meiner christlichen Überzeugung heraus werde keine Waffe in die Hand nehmen.“ Er bekommt Papier und Stift und wird aufgefordert, dies schriftlich niederzulegen. Sein Studium kann er fortsetzen. Das Glück hatten nicht alle, die den Dienst an der Waffe ablehnten. Heiner Möhring engagiert sich in der Evangelischen Studentengemeinde. „Die ESG nannten wir auch ‚Ehe-Such-Gemeinschaft‘ und auch ich habe hier meine Frau Christa kennengelernt.“

Bausoldat: „Bevor ich 26 Jahre alt wurde, musste zur Überprüfung meiner Musterung. Inzwischen gab es die ‚Bausoldatenverordnung‘. Ich wurde vier Wochen nach meiner Hochzeit zu den ‚Bausoldaten‘ eingezogen. Dabei hatte ich das große Glück, dass ich kurz vor meinem Dienst an einem Treffen mit ehemaligen Bausoldaten teilnehmen konnte. Dort erfuhr ich, mit welchen Offizieren in meiner künftigen Einheit in Prora auf Rügen man klarkommen konnte und bei welchen man aufpassen musste.“ Nach dem Ende seines Diensts organisiert er selbst solche Treffen in Schwerin und gibt seine Erfahrungen weiter.

Wir fahren wieder zu Akki: „Im Dorf Čim bei Prag, sehr abgelegen, organisierte ein Prediger mit seiner Frau, einer ehemaligen Zwangsarbeiterin, seit den 1970er Jahren Treffen für Gruppen aus Ost und West. Den Auftakt machten jedes Jahr die ehemaligen Bausoldaten der DDR und Kriegsdienstverweigerer aus dem Westen. Um diese Treffen vor der Staatssicherheit der DDR geheim zu halten, hieß es: ‚Wir fahren wieder zu Akki.‘ So hieß der Hund des tschechischen Ehepaars.

1987 passierte es dann. „Herr Möhring, Ihre Weiterreise in die ČSSR kann nicht genehmigt werden.“, hieß es bei der Grenzkontrolle im Zug. Heiner Möhring macht eine Eingabe an den Staatsrat der DDR und stellt Fragen: 1. Warum? 2. Wer war’s? 3. Wie lange? Etwa drei Wochen später bekommt er im Betrieb Besuch von zwei Männern. Es sei ein Versehen gewesen, man wolle sich entschuldigen.

Nach der Wende stellt Möhring einen Antrag auf Einsicht in seine Stasi-Akten und erfährt: Der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow war zum Zeitpunkt der Reise gerade Gast in Prag. Aus Berlin versuchten Mitglieder einer Friedensgruppe eine Petition zu überbringen. Heiner Möhring, der nicht in direkter Verbindung mit der Gruppe stand, war verdächtig, der Überbringer zu sein.

„So segne diese ­Wohnung“

Solidarität: „Mangel und Zwang schaffen Solidarität. Das ist nicht der ideale Ausgangspunkt, aber die Auswirkungen sind schon gut, wenn man das dann auch fortsetzt, wenn der Mangel und Zwang nicht mehr bestehen. Vor diesem Hintergrund hat man sich in der DDR viel geholfen. Auch die Kirchen erhielten viel Unterstützung – aus dem Westen. Das geben wird bis heute mit einem Helferkreis an christliche Gemeinden in Kasachstan weiter.“

Kein Anschluss unter dieser Nummer: Im Jahr 1990 entbrannte eine heftige Diskussionen über den Weg der Vereinigung: einen Beitritt nach Artikel 23 Satz 2 GG oder eine staatliche Neukonstituierung nach Art. 146 GG. Im August 1990 votierte die Volkskammer der DDR für den Beitritt nach Art. 23 GG; den Weg, den Bundeskanzler Helmut Kohl damals als „Königsweg“ bezeichnete. Heiner Mohring ist sicher, dass damals eine Chance für einen besseren Weg zu einem gemeinsamen Deutschland vertan wurde. Für ihn hieß die Parole „Kein Anschluss unter dieser Nummer“.

Oikocredit: Die internationale Genossenschaft Oikocredit fördert seit 1975 mit privaten und kirchlichen Geldern nachhaltige Entwicklung. „Als wir unsere Hauskredite langsam abzahlten und etwas Geld übrig hatten, haben wir entschieden, hier Geld anzulegen. Seither beteilige ich mich auch aktiv im Oikocredit Förderkreis Norddeutschland e. V.“, sagt Möhring. Ihm gefällt, dass es um das Investieren in Genossenschaften und sozial orientierte Unternehmen und um die Förderung des Wohles, der Gesundheit und der Bildungsmöglichkeiten der Menschen in wirtschaftlich benachteiligten Ländern im Globalen Süden geht. In Ecuador hat Möhring mehrere Partner von Oikocredit besucht. Die Kooperative FAPECAFES macht sich für Biolandwirtschaft stark und übernimmt für 1.200 Kleinbauern die aufwendige und kostspielige Zertifizierung ihrer Produkte. „Das ist auch eine Form der Solidarität“, sagt Möhring. „Besonders freut mich, dass viele Erzeugnisse unserer Partner hier bei uns in Weltläden und im Fairen Handel zu kaufen sind.“