Wovon wir eigentlich reden

Solidarität gehört zum Alltag aller Menschen, auch wenn ihnen das nicht immer bewusst ist. Und doch ist eine Definition des Begriffs gar nicht so einfach – und missbraucht wird er noch dazu

Marsch für Zugehörigkeit: ein Teilnehmer der Marzahn Pride in Berlin zeigt seine Füße Foto:   Foto: Florian Boillot

Und warum Lidl?

Um auch den Aspekt der internationalen Solidarität angemessen berücksichtigen zu können, besteht die Snack-Verpflegung auf den Schreibtischen der an dieser Sonderausgabe beteiligten taz-Genoss:innen aus Lidl-Schokokeksen und Birnen, die in dieser Jahreszeit von der Südhalbkugel nach Berlin verschifft werden. Ob für die in den Keksen verwendete Schokolade Kinder in der Kakaoernte im Einsatz waren, konnte nicht nachhaltig ermittelt werden. Der Verdacht bleibt jedenfalls im Raum. Der anfallende Plastikmüll aus den Verpackungen wird vielleicht nach Afrika transportiert.

Fehlte uns also nur noch die Solidarität mit asiatischen Ländern. Sibylle Disch

Was Habermas sagt

Solidarität ist ein Begriff, der sich einer engen Definition erst mal entzieht. Vom Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas stammt folgende Erklärung: „Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.“

Nicht um den Eigennutz geht es, sondern um den gemeinsamen Nutzen, der das eigene Wohlergehen umschließt. Und anders als der Begriff der Gerechtigkeit, der auf den Einzelnen und seine individuellen Rechte zielt, hat die Solidarität in diesem Verständnis den Genossen als Teil eines gemeinsamen Lebenszusammenhangs im Blick. Ulrich Nettelstroth

Eine Institution

Solidarität gedeiht am besten in einer nicht allzu großen Gruppe mit Menschen, die Gemeinsamkeiten oder ähnliche Interessen haben. Doch es gibt Risiken oder Bedürftigkeiten, die nicht im kleinen Rahmen abzusichern sind. Hier kommt der Sozialstaat ins Spiel. Die Solidarität wurde in Form von Versicherungen institutionalisiert. Die Finanzierung erfolgt über Steuern oder Beiträge und die Einzelperson hat einen Rechtsanspruch auf Leistungen. Eine Art freiwilliger organisierter Solidarität wird in Selbsthilfegruppen, Sportvereinen oder religiösen Gemeinschaften gelebt. Diese Solidaritätsform ist ein Bindeglied zwischen der spontanen und der institutionellen Solidarität. Elisabeth Eberstein

Die Sache mit dem Solidaritätszuschlag

Die Geschichte des Solidaritätszuschlags (Soli) reicht in die Anfänge der 90er Jahre zurück. Ursprünglich sollten die Kosten für den Zweiten Golfkrieg refinanziert werden, inzwischen werden die Einnahmen auf rund zehn Milliarden Euro für das Jahr 2021 geschätzt, weil vor allem Spit­zen­ver­die­ne­r*in­nen bezahlen.

Der Soli hat dem Begriff der Solidarität geschadet – der sogenannte Aufbau Ost wäre sinnvoller und vor allem gerechter zu finanzieren, wenn endliche eine Vermögens- und eine Erbschaftssteuer eingeführt werden würde, gerne als neuer Soli. Dass strukturschwache Gebiete, im Osten und im Westen der Republik, gestärkt werden müssen, steht als Anforderung an die Solidarität sogar im Grundgesetz.

Wenn in den jetzigen Krisen die Zahlen belegen, dass die Reichen immer reicher werden, reicht es nicht, auf vernünftige Erben oder solidarische Vermögende zu setzen. Die unteren und mittleren Einkommensgruppen müssen sich mit den Ausgegrenzten und Marginalisierten solidarisieren. „Oma ihr klein Häusje“ darf ja nach allen vorliegenden Konzepten behalten und vererbt werden. Anders als beim Solipreis der taz wird sich hier die Machtfrage stellen. Walter Lochmann

Weil ein Mensch nicht illegal sein kann

Mehr als 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Sie flüchten vor allem vor Armut, Hunger, mangelnder medizinischer Versorgung, mangelnder Schulbildung, ethnischer, politischer und religiöser Verfolgung, Krieg und vor Folgen der Umweltzerstörungen. Dann gibt es Menschenrechtsverletzungen, die fast ausschließlich Frauen* und Mädchen* betreffen, die auf patriarchalen Strukturen basieren und mit der Kontrolle über den Körper und über die weibliche Sexualität verbunden sind.

Jeder Mensch hat das Recht, bei Verfolgungen in anderen Ländern Asyl zu suchen und zu genießen. Dieses Recht ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert.

Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Leben in Würde. Die Umsetzung dieses Rechtes ist eine solidarische Tat. Behshid Najafi

Von Kriegs-Soli und Überstunden

Danyal Bayaz, Finanzminister in BaWü, schlägt eine Sondersteuer aufgrund des Ukraine-Krieges vor. Er spricht von „Kriegs-Soli“. Bundesfinanzminister Christian Lindner findet solidarische Überstunden besser. CDU-Chef Friedrich Merz brachte bereits einen „Bundeswehr-Soli“ ins Spiel. SPD und Linkspartei wissen, Sondersteuern in Kriegszeiten sind nicht außergewöhnlich. Aus ihrer Sicht geht es um „Übergewinne“. Während der Weltkriege wurde in Frankreich, Großbritannien oder den USA eine Steuer erhoben, um Gewinne abzuschöpfen, „die entweder aufgrund oder während der Kriege erwirtschaftet und daher als ungerecht empfunden werden“, heißt es in einer Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. Claus Oellerking

Die große Unwucht

Pandemien sind das prototypische Ereignis, das globale Solidarität einfordert. Ein Pathogen macht vor Landesgrenzen nicht halt. Globale Lieferketten und Reiseverkehr lassen die Welt zusammenrücken. Im Gegenzug sollte medizinischer Fortschritt global zugänglich sein. Covid-19 hat hingegen das globale System der Un-Solidarität entlarvt. Trotz Covax, der globalen Initiative zum gleichberechtigten Zugang zu Impfstoffen, hat der Globale Süden das Nachsehen. Lieferungen hängen von der Großzügigkeit der Geberländer ab. Ein wichtiger Baustein für globale Solidarität, die Abschaffung der Patente auf lebenswichtige Arzneimittel, ist in weiter Ferne. Tanja Müller

Alles gemein

Commons sind materielle Zeugnisse von Solidarität. Zunächst in Klima- und Ökosystemforschung beachtet, sind sie Grundlage für Kulturen des Teilens abseits der gewinnorientierten Sharing Economy. Commons basieren auf dem gemeinsamen Beitragen ohne die Erwartung unmittelbarer Gegenleistungen und auf der Achtsamkeit gegenüber Regenerationszyklen von Ressourcen. Damit können sie neben dem Wikipedia-Artikel, dem Brot der Solidarischen Landwirtschaft oder dem in der Hausgemeinschaft geteilten Werkzeugkasten so ziemlich alles umfassen. Ihre gemeinsame Verwaltung und Nutzung wird Commoning, zu deutsch Gemeinschaffen, genannt. Paul Jerchel