Fotobuch zum „Dschungel von Calais“: Ein stillstehender Transit

Der französische Fotograf Bruno Serralongue besuchte die Menschen, die im „Dschungel von Calais“ ausharrten. Daraus ist ein Buch entstanden.

Ein improvisierter Verkaufsstand mit zwei Zitronen

Ausschnitt aus einer Fotografie von Bruno Serralongue, aus dem besprochenen Buch​ Foto: Bruno Serralongue, © Heni Publishing 2022

Mit „Folkestone to Calais in 35 Minutes. Book Now!“ wirbt die Fähre. In die umgekehrte Richtung, über den Ärmelkanal hinüber nach Großbritannien, würden die in Calais gestrandeten Geflüchteten zu gerne ein Ticket buchen. Doch sie müssten als blinder Passagier auf Lkws oder Güterzüge aufspringen oder gar zu Fuß den Euro-Tunnel durchqueren.

Für viele dauert das Warten auf die richtige Gelegenheit zum Übersetzen Jahre, wenn sie sich denn überhaupt ergibt. Der in Paris lebende Bewegungsfotograf Bruno Serralongue hat über Jahre die unfreiwillig an Frankreichs Nordküste Campierenden besucht.

Seine Aufnahmen mit einer altmodisch anmutenden Großformat-Kamera zeigen strittige Landschaften. Der Hafen von Calais ist eine Verfallskulisse, doch zeugen Lkw-Kolonnen vom globalisierten Warenverkehr. Im Buschwerk versteckt liegen die einfachen Bretterbuden der hier Gestrandeten, in die Nischen gedrückt, nachdem schon mehrfach die Bulldozer gekommen waren.

Was in Frankreichs Medien als „Jungle“ bezeichnet wird, ist eine Elendssiedlung in einem wohlhabenden europäischen Land. Hier lebten bis 2016 Menschen, die keine Residenz haben sollen.

Bruno Serralongue: „Calais. Testimonies from the,Jungle' 2006–2020“. Englisch/Französisch, Heni Publishing, London 2022, 224 Seiten, 35 Pfund

Serralongues hinter Plexiglas gefasste Abzüge dieser Aufnahmen wandern über Kunstmessen und durch Museen. Seine Bilder vom „Jungle“ sind pano­ramische Anschauungen eines Ortes, der von der europäischen Öffentlichkeit ungewollt und gleichsam für ihren Umgang mit Flucht und Migration bezeichnend ist. Nur manchmal bricht er aus der Übersicht aus und zeigt gehäufte Aufnahmen von einer öffentlichen Anhörung der Geflüchteten oder Totalräumung des Lagers.

Alltag suchen im Warten

Der Kurator Florian Ebner untersuchte 2019 in einer Ausstellung für das Centre Pompidou die digitale Medienproduktion zu dieser „Krise von Calais“, unter anderem mit den Bildern von Bruno Serralongue. Jetzt sind Serralongues Fotografien zu dem großformatigen Buch „Calais. Testimonies from the ‚Jungle‘ zusammengefasst.

Die Publikation schaut empathisch auf Menschen, die im Zustand eines stillstehenden Transits Normalität und Alltag suchen. Zumindest vorübergehend sind die Bretterbuden in den Dünen ihr eigen. Dieses Ringen um einen temporären Restplatz in dem regelrechten „bidonville d’État“ (staatlicher Slum), wie das Lager von Calais auch in den französischen Medien bezeichnet wird, kann als exemplarisch für die Situation vieler Flüchtender gesehen werden, die an den Rändern Europas ausharren müssen.

Der für seine politische Philosophie und Ästhetik bekannte Jacques Rancière bezeichnet in einem einleitenden Essay des Buches Serralongues Bewohner des Dschungels als „Fantômes de Calais“. Sie „sind […] dazu da, ungesehen zu passieren“. Diese Gespenster, so könnte man mit Blick in die Kunstgeschichte sagen, sind keine souveränen „Bürger von Calais“, wie Bildhauer Auguste Rodin das bekannte künstlerische Motiv jener angesehenen Stadtbürger, die während des Hundertjährigen Krieges freiwillig als Geiseln vor den englischen König traten, vielfach in Bronze gießen ließ. Sie sind Staaten-, Orts- und Rechtlose.

Läden, Moscheen und Ladestationen zeigen auch: Während sie warten, haben die Migranten ein globales Dorf geschaffen.

Fotografie war immer schon ein Medium, um das Gewesene, jedoch physisch Abwesende einzufangen. Hiermit markiert Rancière auch Dilemma und Stärke der künstlerischen Gattung Fotografie – als „negative Form des Zeugnisses“.

In zwei Phasen suchte Bruno Serralongue das Lager auf. Zunächst von 2006 bis 2008, als sich infolge der Schließung eines Rot-Kreuz-Camps bereits illegale Siedlungen entwickelt hatten. Und schließlich während der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa 2015 bis zur Räumung des Lagers 2016. I

m Buch zeugen nun zwei Serien mit je 80 Aufnahmen vor allem vom elenden Warten der Menschen. Das zähe Ausharren-Müssen wird an den alltäglichen Objekten sichtbar, an einer leeren Lidl-Tüte am Zaun, an den zwei Zitronen, die am Gitter eines improvisierten Verkaufsverschlags hängen. Läden, Moscheen und Ladestationen zeigen auch: Während sie warten, haben die Migranten ein globales Dorf geschaffen. Auf den späteren Aufnahmen deuten erstrittene Wasserstellen, Gärten und kleine Hausstrukturen an, wie sich das Leben hier noch mehr verfestigt hat.

Und zugleich sind die staatlichen Zeichen der Abgrenzung vernehmbar. Abstellgleise führen Richtung England, wie im Mittelalter sollen Wassergräben oder planierte Areale den Zugang zum Euro-Tunnel erschweren. Ein „Pfad in der Dämmerung“, so auch der Titel einer Abbildung vom Juli 2006, schlängelt sich in fahler Schönheit zu den Hütten aus und im Müll. Bruno Serralongue verwendet für seine erste Serie den Begriff des „Lagerfeuers“: Eine Wärmequelle, aber auch Ausbruch eines Feuersturms.

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