berliner szenen
: ’nen Euro haben oder nicht

Es ist heiß in der S-Bahn, draußen sind es 32 Grad. Die Leute stellen sich in die Nähe der geöffneten Oberfenster, lüften im Fahrtwind heimlich ihre Masken oder ihre Achseln. Viele haben rote Gesichter. Mir gegenüber sitzen zwei Männer auf den äußeren Plätzen der Dreierbank. Der eine ist jung, trägt keine Maske, hat Kopfhörer auf und starrt abwesend vor sich hin. Er wirkt mutlos. Oder traurig. Der Mann rechts hat einen grauen Zopf und liest Zeitung.

Eine junge Frau mit einem Fahrrad kommt herein. Sie stellt ihr Gefährt schräg vor den Zeitungsleser und überlegt wohl, ob sie sich auf den Platz in der Mitte setzt, entscheidet sich aber dagegen. Irgendwann beugt sie sich über ihren Lenker zu dem Zeitungsleser herüber und fragt: „Entschuldigung, ist das Ihr Euro da?“ Sie zeigt auf den mittleren Platz, auf dem ein Euro liegt. Der Mann guckt kurz darauf, schüttelt den Kopf und tippt den jungen Mann neben sich an. „Haben Sie den verloren?“, fragt er und zeigt auf den Euro.

Der junge Mann sagt nichts, tastet nur seine Seitentaschen ab und zuckt die Achseln. Er beugt sich nach vorn und sieht in sein Handy. Der Zeitungsleser sieht die Fahrradfrau an und zuckt mit den Schultern. Der Euro liegt immer noch unangerührt mitten auf dem Platz und man sieht, dass alle drei überlegen, wer ihn denn nun nimmt. Es ist ein Krimi, denke ich. Alle wissen jetzt ja, dass der Euro niemandem gehört, und alle würden ihn gern nehmen.

Da plötzlich lehnt sich der junge Typ zurück, greift, ohne jemanden anzusehen, nach dem Euro, steckt ihn ein und sieht wieder unbeteiligt in sein Handy.

Der Zeitungsleser und die Fahrradfrau gucken sich an und lachen. „’nen Euro haben oder nicht“, sagt der Zeitungsleser, und die Fahrradfrau nickt bedauernd.

isobel markus