jazzkolumne
: Das große Vielleicht

Die New Yorker Avantgarde-Szene erholt sich langsam von den Folgen der Anschläge vom 11. September

Hier ist Manhattan zu Ende. An einer Ecke an der Lower East Side, das Schild über dem Ladenraum dokumentiert, dass hier einmal ein China-Imbiss gewesen sein muss, liegt The Stone, John Zorns neuer Club. Keine Bühne, keine Klimaanlage, nur ein ganz kleiner Hinweis an der Ladentür, den man abends gar nicht erkennen kann. Keine Werbung, keine Scheinwerfer, das Programm ist nur über das Web zu erfahren. Zehn Dollar Eintritt kostet das Solokonzert von Mark Ribot, der auf einer zerschrammten Akustikgitarre von Gibson spielt, Standards der Jazzgeschichte zerlegt, zerfetzt, analysiert. Fast unkenntlich gemacht, aber nicht zerstört – kein Neokonservativismus kann diese Interpretation von Geschichte für sich vereinnahmen. Siebzig Leute drängen sich, eine Klimaanlage gibt es nicht. Einen Tag später im Tonic, gerade erst vor dem Zugriff der Immobilienmafia bewahrt, stellt Ribot seine neue CD „Spiritual Unity“ (Pi Recordings) vor, eine zersauste Hommage an den Free-Jazz-Saxofonisten Albert Ayler.

Ribots Quartett hat keinen Saxofonisten, Aylers Soli interpretiert er auf der E-Gitarre, laut, verzerrt und lustig auch. Die experimentelle Szene hat sich knapp vier Jahre nach dem 11. September offensichtlich insoweit erholt, dass sie wieder sicht- und hörbar ist. Der Pianist Vijay Iyer, Anfang 30, stellt im Jazz Standard, unter den offiziellen Jazzclubs New Yorks nach wie vor der angesagteste, seine neue CD „Reimagining“ (Savoy Jazz) vor, eine Quartett-CD mit dem Altsaxofonisten Rudresh Mahanthappa, mit dem Iyer schon seit zehn Jahren zusammen spielt.

Iyer bezeichnet sich als südasiatischen Amerikaner, als „person of color“, seine Komposition „Song For Midwood“ hat er der pakistanischen Community in Brooklyn gewidmet. Mahanthappa experimentiert in seinen Soli mit von ihm in Musik übersetzten Sprachmustern indischer Sprachen, Iyer hat in seiner Dissertation über den Zusammenhang von Körperhaltung und musikalischem Ausdruck geforscht. Von der amerikanischen Jazzjournalistenvereinigung wurde Iyer als führender Nachwuchspianist gefeiert, mit der Band des, wie sich in jüngster Zeit immer deutlicher zeigt, besonders bei jungen kreativen Musikern immens einflussreichen Saxofonisten Steve Coleman war er auch schon in Europa auf Tour. Iyer, der zudem intensiv mit dem afroamerikanischen HipHop-Poeten Mike Ladd zusammenarbeitet, ist das politische Engagement selbstverständlich.

„The Big Almost“, eine Komposition auf seiner neuen CD kündigt er bei seinem Auftritt im Jazz Standard als Statement zu dem an, was im November schief lief, Iyer hatte sich damals intensiv gegen eine Wiederwahl Bushs eingesetzt. Die Frage, was von jener Aufbruchstimmung jetzt noch übrig sei, beantwortet er mit einer Gegenfrage. „Revolutions“, der Opener von „Reimagining“, sei sein aktueller Kommentar dazu, sagt Iyer, die Platte wurde zwei Wochen nach der Niederlage der Bush-Gegner aufgenommen.

Auch beim zehnten New Yorker Vision-Festival, das Mitte dieses Monats für fünf Tage besonders die kreative afroamerikanische Szene an der Lower East Side versammelte, spielte das politische Selbstverständnis der auftretenden Künstler eine tragende Rolle. Die weiße Organisatorin, Patricia Parker, Ehefrau des schwarzen Bassisten William Parker, macht zudem klar, dass sie ganz bewusst darauf achtet, dass die afroamerikanischen Musiker bei ihrem Festival den größten Teil stellen. In diesem Jahr stand die schwarze Chicagoer Szene um den Saxofonisten Fred Anderson im Mittelpunkt, der über dreißig Jahre lang Tagesjobs wie Tellerwaschen und Teppichverlegen gemacht hat, um seine Familie zu ernähren, und seit zwanzig Jahren einen kleinen Club namens Velvet Lounge führt, in dem kreative Musik stattfindet. Anderson ist die Institution der schwarzen Jazzavantgarde Chicagos, Musiker sprechen sogar von der Fred-Anderson-Universität, um klar zu machen, dass sie ihr Wissen aus erster Hand haben.

Die besten neuen Aufnahmen von ihm gibt es auf „Fred Anderson/Hamid Drake – Back“ (Thrill Jockey), einer Duo-Session mit dem Schlagzeuger Hamid Drake, mit dem er zusammen vor 20 Jahren die rhythmische Improvisation erfunden hat. Das melodische Spiel ist Drakes Markenzeichen, er ist heute einer der meistbeschäftigten Schlagzeuger der amerikanischen Szene, beim Vision Festival trat er gleich mit mehreren Bands pro Abend auf.

CHRISTIAN BROECKING