Prozessende in Frankreich: Katharsis im Zeichen des Grauens

In Paris fallen Urteile gegen 20 Angeklagte, die im November 2015 dschihadistischen Terror verübt haben sollen. Der Prozess hat Frankreich bewegt.

Eine junge Frau steht trauernd vor dem Bataclan in Paris

Trauer kurz nach dem Anschlag in Paris: Bis zum Prozess dauerte es Jahre Foto: Daniel Biskup

PARIS taz | Es ist ein gigantischer, ein kathartischer, ein reinigender Prozess geworden. Für ihn wurde eigens im Palais de Justice auf der Pariser Île de la Cité ein Gerichtssaal gebaut. Es ist der größte Strafprozess, der bis jetzt in Frankreich geführt wurde: viereinhalb Jahre Beweisaufnahme, zehn Monate Prozess, 1.800 Nebenkläger:innen, 20 Angeklagte.

Letztere werden verurteilt für die brutalste Terrorattacke, die seit 1945 je in Europa geführt wurde. Drei Sprengstoffgürtel detonierten am 13. November 2015 beim Stade de France, diverse Pariser Lokale gerieten unter Beschuss, im Konzertsaal Bataclan gab es ein Blutbad. Am Ende sind 130 Menschen tot, Hunderte verletzt und Tausende traumatisiert.


Weit vor dem nun zu fällenden Urteil haftete ihm bereits etwas Philosophisches an: Gerechtigkeit walten lassen, ja, aber vor allem eindrücklich aufzeigen, dass in einer zivilisierten Gesellschaft auf die blinde Gewalt des Terrorismus nur eins antworten kann: das Recht. Ein Fingerzeig auch in Richtung der USA, die nach dem 9/11-Terror im Jahr 2001 und konträr zum amerikanischen Strafsystem rechtsfreie Räume geschaffen haben – namentlich die Geheimgefängnisse der CIA und das Straflager in Guantánamo.



Beklemmende Nachzeichnung

Der Prozess in Paris hat seit September 2021 und in 140 Verhandlungstagen, verfolgt von Hunderten Jour­na­lis­t:in­nen aus aller Welt und gefilmt für die Geschichte, beklemmend minutiös alle Handlungs- und Schicksalslinien nachgezeichnet. Die der Terroristen, ihrer Opfer und der Zeug:innen, aber auch der Polizist:innen: Ein Horrorfilm in nachträglicher Zeitlupe ist hier zur Aufführung gelangt.

Wir fühlen mit dem Busfahrer Manuel Colaço Dias, der vor der Diktatur des Portugiesen Salazar mit 18 flüchtete und jetzt mit 63 Jahren in einem Café gegenüber dem Stade de France sitzt, um das Fußballspiel Frankreich–Deutschland zu gucken. Er ist das erste Opfer des Gemetzels an jenem Abend, als ein Dschihadist seinen Selbstmordsprenggürtel zündet.



Im Gerichtssaal sehen wir vor uns, wie acht Minuten später ein schwarzer Seat mit belgischem Kennzeichen vor dem Restaurant Le Petit Cambodge im hippen 10. Arrondissement von Paris hält. Drei Männer mit Sturmgewehren im Anschlag beschießen die Gäste, dann steigen sie ruhig wieder ins Auto. In knapp zwei Minuten töten sie 13 Menschen, unter ihnen zehn junge Frauen. Wenig später metzeln zwei der Dschihadisten auf der Terrasse des Cafés À la bonne bière erneut Dutzende Menschen nieder. Der dritte nähert sich einer Frau, die auf dem Boden liegt, um sie zu erschießen, doch sein Gewehr versagt. Es ist Abdelhamid Abaaoud, der Hauptkoordinator der Attentatsserie.

Seit langem auf dem Radar


Abaaoud ist kein Unbekannter. Den Belgier haben Nachrichtendienste in 15 Ländern seit Langem auf dem Radar. Sechs Wochen zuvor versucht französisches Militär vergeblich, ihn handlungsunfähig zu machen, und bombardiert Ausbildungslager des IS in Syrien. Man vermutet ihn im Herbst 2015 im islamischen „Kalifat“ – in Wirklichkeit sitzt er im Seat in Paris – und stirbt wenige Tage später in einem Versteck, überwältigt von der Polizei.



Der historische Prozess schildert nicht nur den Ablauf des ganzen Dramas, er wirft auch ein Schlaglicht auf das Versagen der französischen und belgischen Nachrichtendienste, die es kalt erwischte, weil sie zu spät kapierten, dass die Terroristen ihnen entwischt waren, weil diese sich unter Hunderttausende Flüchtlinge gemischt hatten, die vor dem syrischen Bürgerkrieg flohen.



Wir sehen vor uns, wie der Polizeikommissar Guillaume C. (der wegen seiner Funktion anonym im Prozess bleibt) im Dienstwagen durch Paris fährt, als er über Funk von der Terroraktion im Bataclan hört. Als erster Polizist erreicht er den Tatort und entscheidet sich, nur zusammen mit seinem Chauffeur den Konzertsaal zu betreten – im Gegensatz zu der Gendarmerie, die draußen noch auf einen Einsatzbefehl wartet. Die beiden wissen noch nicht, welcher Alptraum sie hinter dem Eingang zum Bataclan erwartet.

Getöse der Schusswaffen

Inmitten von Angst- und Schmerzensschreien und dem Getöse der Schusswaffen sehen die zwei Polizisten drei schwerbewaffnete Männer, die wahllos weiter auf das Konzertpublikum schießen, während der Boden bereits von Leichen und blutenden Verletzten bedeckt ist. Sie zielen sechs Mal auf einen der Terroristen, der daraufhin stürzt und seinen Sprengstoffgürtel zündet. Ein anderer lädt wieder sein Sturmgewehr, schreit die Opfer an: „Ihr bombardiert unsere Brüder in Syrien und im Irak! Jetzt machen wir dasselbe hier mit euch!“


Im Mammutprozess kritisiert später der ehemalige Anti-Terror-Richter Marc Tredivic, dass der französische und der belgische Staat fahr- und nachlässig mit der Terrorwelle umgegangen seien, die sich schon viel früher als an jenem grausamen Schicksalstag aufgebaut habe. Tredivic spricht von Jugendlichen, „die fasziniert sind von 9/11“, die Guantánomo geprägt hat und die Bilder von demütigenden Misshandlungen durch US-Soldaten im Gefängnis von Abu Ghraib im Irak.

Er berichtet vom „Exodus“ von über 3.000 Fran­zö­s:in­nen seit 2013 nach Syrien, „von ganzen Familien, von Jugendlichen, die im Visier der Justiz waren, von Verurteilten, die ihre Strafe abgesessen hatten“. Sie gingen und kamen zurück nach Frankreich und reisten wohl wieder nach Syrien, der Staat sei ihnen nicht auf die Schliche gekommen, so der Ex-Richter. „Deshalb konnten sie problemlos Attentate planen und ausführen.“

Blinder Amoklauf


Wie also kam es dazu, dass junge Franzosen und Belgier, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, sich in einen derart grausamen Amoklauf stürzten? Die Wurzeln dieses Mysteriums lassen sich nur ausmachen, verfolgt man die Ursprünge des Islamismus zurück, einer fundamentalistischen Islamströmung – und hinterfragt die befremdliche Attraktion, die er auf manche ausübt. Seinen Anfang nimmt der Islamismus in Saudi-Arabien; er verbreitet sich schnell in der Organisation al-Qaida, sie wird geführt von Osama Bin Laden, dem Drahtzieher von 9/11 im Jahr 2001.



Das Trauma, das die USA hier erleiden, lässt den damaligen Präsidenten George W. Bush übereilt und falsch reagieren: Die USA marschieren völkerrechtswidrig im Irak ein, um Präsident Hussein zu erledigen, der aber hat mit der Zerstörung der Twin Towers nichts zu tun. Es hilft Hussein nichts, schließlich stirbt er Ende 2006 durch den Strick. Während des Irakkriegs 2003 lässt US-Präsident Bush die irakische Armee auflösen. Chaos ist die Folge, Sunniten und Schiiten bekämpfen sich gegenseitig. Als die USA das Land verlassen, greift der IS an, der mittlerweile al-Qaida verdrängt hat, und schlägt die neue, von den USA installierte irakische Armee in die Flucht. Dann ruft er das von ihm kontrollierte, flächenmäßig immense, „Kalifat“ aus – jenen „Staat“, der bald zum Terrorcamp wird, unter anderem auch für Franzosen und Belgier.

Zu den Anfängen dieses „Kalifats“ ist zu sagen, dass es in den 1960er Jahren eine informelle Bewegung in der arabischen Welt gab, die eher laizistisch geprägt war, zusammengesetzt unter anderem aus Kommunisten, Marxisten, Sozialisten und arabischen Nationalisten. Diese Bewegung kanalisierte allen Frust und allen Ärger der arabischen Welt. Sie versprach in ihren eigenen Worten „die Niederschlagung des Imperialismus, des Zionismus und von arabischen Reaktionären“ – und kündete von besseren Zeiten.

Rückschritt als Rückkehr verkauft

Als diese Bewegung scheiterte, waren die einzigen Kandidaten für ihre Nachfolge die Islamisten. Ihre Vorgänger waren noch Anhänger eines „Fortschritts“, der ihnen wichtig war, um den Westen einzuholen. Die Islamisten wollten von Anfang an zur islamischen Identität zurückkehren und an den verlorenen Ruhm des untergegangenen arabischen Reiches anknüpfen – an das Kalifat einstiger Zeiten. Dieser Rückschritt, den die Islamisten als Rückkehr zu den Ursprüngen verkauften, hat nicht nur einen früheren Feldzug wiederaufflammen lassen gegen die „Ungläubigen“, sondern auch den jahrhundertealten Krieg zwischen islamischen Schiiten und Sunniten.

Unter den jungen Adepten des französischen und belgischen Dschihadismus hat man viele Deklassierte gefunden, viele sozial Benachteiligte, kleine Dealer und Taschendiebe, die sich der Illusion hingaben, dass der „Islam die Lösung“ sei, weil ihnen das irgendein naher Verwandter erzählt hatte. Der Islamismus diente hier als ein vermeintlicher Restart in eine Art moralische Jungfräulichkeit. Indem sich diese Jugendlichen mit ihm vollkommen identifizierten und ihr früheres Leben fortan total ablehnten, gaukelten sie sich eine unsinnige und fatale Macht über „Ungläubige“ vor. Sie glaubten, grausam über Leben und Tod derer verfügen zu können, denen sie früher so unbedingt ähneln wollten.

Aber dass diese allermeist jungen Menschen ihre wahnhaften Fantasien in die Tat umsetzen konnten, das war erst möglich, als das „Kalifat“ im Irak und in Syrien wiederauferstanden war. Mit dessen militärischen Niederschlagung ist dieser fantasmatische Traum, dieser Wahn, fürs Erste zumindest geplatzt.

Wichtiger moralischer Sieg

Unter all diesen Bedingungen bedeutet der Mammutprozess zum Terror des 13. November 2015 einen wichtigen moralischen Sieg in Paris. Trotz aller Verheerungen hat der Rechtsstaat die Oberhand behalten über eine beispiellose Logik der Grausamkeit und des Gemetzels vonseiten der Terroristen. Die Angeklagten sind letztlich dazu gezwungen gewesen, sich bei den Opfern zu entschuldigen, auch wenn sie versucht waren, ihre jeweiligen Rollen herunterzuspielen – wie etwa Salah Abdeslam, der noch lebende Hauptangeklagte, der dafür plädierte, nicht unwiderruflich zu lebenslanger Haft verurteilt zu werden.

Und dennoch – die Gefahr durch den Dschihadismus ist nicht vom Tisch, ist längst nicht gebannt. Die Metastasen des vorerst verschwundenen „Kalifats“ streuen weiter in Libyen und in Nigeria, in Mali und im ägyptischen Sinai; sie breiten sich auch in Asien aus und sogar in Afghanistan. Dort versucht der IS, die Taliban zu verdrängen. Solange der Dschihadismus weltweit seine Anziehungskraft behält, solange wird das aktuelle Urteil des großen Schwurgerichts von Paris bei weitem nicht ausreichen, um seine tödliche Spirale zu durchbrechen.

Aus dem Französischen von Harriet Wolff

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